Aus Wüste und Steppe wird blühendes Land

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Die Gerechtigkeit tritt vor die Tür. Waage und Schwert sind ihre Symbole.
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Foto: Thomas Becker

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Die Gerechtigkeit tritt vor die Tür. Waage und Schwert sind ihre Symbole. Ein weiteres Detail: die abgelegten Krücken im Vordergrund.

„Wachet auf, ruft uns die Stimme des Wächters sehr hoch auf der Zinne“. Vor dem ersten Adventssonntag war es noch ziemlich einsam in der Krippe des Hamburger Mariendoms. Eine wüste, menschenleere Landschaft wie am ersten Schöpfungstag. Nur der Wächter war da. Er stand auf den Zinnen der Stadtlandschaft im Hintergrund und hielt Ausschau. 

„Heute ist schon viel mehr Leben“, sagt Thomas Becker. „Die Hirten sind da, der Wasserfall plätschert, Maria und Josef mit dem Esel sind unterwegs. Der Verkündigungsengel ist auch noch da, und König Herodes guckt aus seinem Palast.“ Thomas Becker gehört zum Krippenteam des Mariendoms. Vor drei Jahren hat dieses Team angefangen, eine wachsende Krippe zu gestalten. Im Laufe der Adventszeit kommen und gehen neue Gestalten – und es sind weit mehr als die gängigen Krippenfiguren.

Da war die Schlange am Baum des Paradieses – die inzwischen für den hölzernen Stall Platz gemacht hat. Vor dem Stadttor steht die Figur der Gerechtigkeit. In den Händen hält sie die Symbole der Gerechtigkeit, Schwert und Balkenwaage. „Sie steht für die große Verheißung und die große Sehnsucht der Menschen – nach Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit“, erklärt Thomas Becker. Im Antwortpsalm (85) des zweiten Adventssonntags hat man es gehört: „Es begegnen sich Huld und Treue. Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.“

Das ist das Besondere an der Domkrippe: Sie setzt alle gottesdienstlichen Texte der Adventszeit, aus dem alten und dem neuen Testament, in Szene. Einschließlich der Details. Dazu gehört etwa der Hahn, passend zum „Hahnenschrei“ im Evangelium des ersten Adventssonntags. „Ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen“ (Markus 13,35-36). „Der Hahn kündigt den kommenden Tag an, bevor die Menschen ihn sehen. Und im Raum Palästina ist er auch ein Wetterbote, der Regen ankündigt. „Die Steppe wird blühen“, kündigt Jesaja an. Und so blüht auch die Domkrippe auf – langsam bis zu Weihnachten – und darüber hinaus. „Mit Weihnachten sind wir noch nicht am Ende“, sagt Becker. Bis zum Fest Darstellung des Herrn (Mariä Lichtmess) wird die zwölf Quadratmeter große Landschaftskrippe stehen bleiben. „Ich selbst erlebe die Adventszeit jetzt sehr viel bewusster als vorher“, bekennt der Krippenbetreuer, der im Zivilberuf Goldschmied ist. Allein ist er nicht. Ein Kreis von zehn Personen guckt jeden Tag nach dem Rechten, füllt das Wasser für den Wasserfall nach, richtet die Scheinwerfer und leert den Kasten mit den Gebetsanliegen: Neben der Krippe gibt es erklärende Broschüren und Zettel, auf die man seine Bitten und Gedanken eintragen kann. Sehr viele Menschen tun das und bekunden, dass der Aufwand nicht umsonst ist.

Die Krippe im Mariendom wächst – nicht nur vom ersten Adventssonntag bis Mariä Lichtmess, sondern von Jahr zu Jahr. Den König Herodes, die Gerechtigkeit, das schwarze Schaf in der Herde, sie gab es vor Jahren noch nicht. Für jede neue Figur gab es einen Spender. Wenn die Spende da ist, wird die Figur von einem Krippenschnitzer in Oberammergau gefertigt – jede Person eine Maßanfertigung für den fernen Dom im Norden.

„Was wir hier machen, ist Verkündigung“, sagt Thomas Becker. Und er weiß: Der Same trägt Frucht. Immer mehr Menschen kommen dazu. Vor der roten Kordel als stille Betrachter – und dahinter als biblische Gestalt an der Krippe. Wie weitere Spenden eingesetzt werden, ist heute schon klar. „Wir bräuchten noch mehr Schafe, vor allem Lämmer.“
 

Andreas Hüser