Interview mit Hermann Glettler, Bischof von Innsbruck

"Beten kann man lernen wie eine Sprache"

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Frau mit geschlossenen Augen hat Hände gefaltet
Nachweis

istockphoto/doidam10

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Beten kann einfach sein. Man muss es ausprobieren.

Hermann Glettler, Bischof von Innsbruck, hat das Buch „hörgott“ mit einer Sammlung von Gebeten herausgegeben. Ein Gespräch darüber, ob man beten lernen muss, wie es sich einüben lässt und was man tun kann, wenn man es nicht mehr schafft.

Herr Bischof, ist beten mühsam?

Ja und Nein. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem elfjährigen Mädchen. Auf die Frage, ob sie betet, hat sie ganz prompt geantwortet: „Ja, jeden Tag. Manchmal habe ich dabei den Eindruck, dass ich gegen eine Wand spreche.“ Eine starke Aussage. Das Gebet mühsam, scheinbar keine Resonanz. Und dann fügte sie hinzu: „Aber meistens kommt es mir vor, als würde ich direkt in das Herz Gottes hineinsprechen.“ Das hat mich berührt. Ein junger Mensch mit einer faszinierenden geistlichen Erfahrung. 

Ist beten kompliziert?

Porträtfoto von Bischof Glettler
Hermann Glettler ist Bischof von Innsbruck. Foto: Bistum

Nein. Wir machen es oft kompliziert. „hörgott“ ist eine Ermutigung. Beim Beten gibt es keine Profis. Einfache Worte genügen, letztlich muss doch das Herz sprechen. Die vorgefassten Gebete sind nur eine Hilfe, um in ein persönliches Gespräch zu kommen. Und viele Gebete passieren ja ohnehin unbewusst. Denken wir an die spontanen Hilferufe in einer verzweifelten Situation. Es sind Gebete, die aus der Tiefe aufsteigen, meist nicht fromm etikettiert.

Man sagt ja auch: „Not lehrt beten.“

Ja, das wissen wir alle. Aber es kann auch sein, dass die Not das Fluchen lehrt oder in eine Verbitterung führt. Die Not ist ein Fluchtweg zu Gott. Die Dankbarkeit wäre der Königsweg. Der Fluchtweg kann verstellt sein, weil Gerümpel herumliegt. Menschen können von Enttäuschungen innerlich besetzt sein. Gute Gebete sind eine Hilfe, um innerlich frei zu werden. Eine Hilfe zum Durchatmen. Aber nochmals zur Frage: Ja, eine persönliche Krise kann den Blick weiten. Zumindest ist es keine Schande, sich in einer konkreten Not an Gott zu wenden.

Und wie funktioniert der „Königsweg“?

Ich glaube, dass man Dankbarkeit lernen kann – Anlässe gibt es ja genug. Positive Momente im Alltag, wunderbare Begegnungen, berufliche Chancen und vieles mehr. Wer zu danken beginnt, nimmt das scheinbar so Selbstverständliche als Geschenk wahr. Der Schriftsteller Elias Canetti hat einmal gesagt: „Mehr noch als für seine Not braucht der Mensch für seinen Dank eine Adresse.“ Das gefällt mir sehr gut. Der Ursprung von allem, was existiert, ist eine persönliche „Adresse“, ein Gott mit Angesicht – im Unterschied zum anonymen Kosmos.

Wie geht beten nun konkret?

Gebet ist eine heilsame Unterbrechung. Mindestens 15 Minuten sollte man sich täglich dafür reservieren. Am besten ist es, die kurze Gebetszeit mit einer Stille zu beginnen. Im Geplärre unserer nervösen Zeit lässt sich Gott kaum vernehmen. Durch bewusstes Hören wächst ganz automatisch eine größere Aufmerksamkeit. Für den Einstieg eignet sich ein vorgefasstes Gebet. In der vorliegenden Sammlung gibt es dazu eine große Auswahl – Gebete, die aufrichten. 

Das Buch heißt „hörgott“ – welche Bedeutung hat das Hören?

Alles beginnt mit dem Hören. Es ist weit mehr als nur die Fähigkeit, akustische Signale aufzunehmen. Hören ist eine Herz-Qualität: Dem anderen in sich Raum und Stimme geben. In der Bibel wird bezeugt, dass Gott das himmelschreiende Elend seines Volkes gehört hat. Gott hört – und beachtet die vielen leisen und lauten Schreie unserer verwundeten Welt. Gottes Herz ist der unendlich große Resonanzraum. Und „hörgott“ bedeutet auch: „Mensch, hör endlich einmal zu!“ Auf-Hören – und hörend beten lernen. Nur so kann uns Gott etwas sagen, Neues zusprechen. Zuhören ist das Erfolgsgeheimnis für jede Beziehung.

Kann ich sicher sein, dass Gott mich tatsächlich hört?

Ich denke schon, auch wenn Gott kein Automat ist, der unsere Wünsche zu erfüllen hätte. „Gott funktioniert nicht“, hat der Theologe Thomas Frings einmal geschrieben, „deshalb glaube ich an ihn.“ Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Gott nicht alle meine Wünsche erfüllt hat. Ich weiß nicht, in welchem Chaos das geendet hätte (lächelt). Viel wichtiger: Beten schenkt eine innere Verbundenheit, baut Beziehung auf und stärkt das Vertrauen. Ja, Gott erhört jedes Gebet – aber meist anders, als wir es uns vorstellen.

Hat das Fürbittgebet dann überhaupt einen Sinn?

Doch, wer für jemanden bittet, solidarisiert sich mit den Notleidenden unserer Zeit – und rechnet mit den größeren Möglichkeiten Gottes. Auch in bedrängender Ohnmacht. Wer glaubt, lässt sich überraschen. Das Fürbittgebet ist der Ernstfall des Glaubens: Trauen wir dem lebendigen Gott etwas zu? In jedem Elend ist ein Neuanfang möglich. Aber Vorsicht: Das Elend unserer Welt lässt sich nicht wegbeten! Wer in der Haltung Jesu betet, lernt selbst Verantwortung zu übernehmen. Nicht zuletzt auch Geduld und Barmherzigkeit. Jedenfalls weitet jedes fürbittende Gebet unser Herz.

Ist beten also mehr als eine fromme Übung? 

Beten ist eine geistige Kraft. Wer betet, nimmt Gottes Herzensenergie in sich auf. In den vielen Momenten von Frust und Erschöpfung braucht es diese andere Energie. Durch das Gebet wird man innerlich aufgerichtet und gestärkt. Gottes Herzensenergie ist sein Heiliger Geist. Er wird großzügig allen geschenkt, die sich nach Nähe und Inspiration sehnen. Beten verbindet – die Erde mit dem Himmel und Menschen mit Menschen. Gerade diese Verbundenheit brauchen wir dringend in Zeiten grober Verwerfungen und Polarisierungen.

Kann man beten lernen?

Ja, ich denke schon. Beten lernt man, wie man eine Sprache, das Tanzen oder ein Instrument lernt. Durch Übung, ein Leben lang. Mit Gott und den vielen Zumutungen des Lebens wird man nie fertig. Alle erfahrenen Beterinnen und Beter haben sich immer wieder neu einer Begegnung mit dem letzten Geheimnis unseres Lebens ausgesetzt. Ihr Gebet ist nach vielen Jahren meist sehr einfach geworden, fast kindlich. Nicht umsonst hat uns Jesus Kinder als Vorbilder genannt. Das Ziel ist jedenfalls die innere, vertrauensvolle Gemeinschaft mit Gott.

Braucht Gott unsere Gebete?

Nein, sicherlich nicht. Aber er freut sich an jedem Menschen, der sich an ihn wendet. Wie wir wissen, sucht die Liebe immer ein Du, ein Wir, immer ein Gegenüber.

Ist Gott auf unseren Lobpreis angewiesen? 

Sicher nicht. In einem Hochgebet heißt es: „Du bedarfst nicht unseres Lobpreises, uns aber wird er zum Segen und Heil.“ Ja, echter Lobpreis richtet auf. Er bewahrt davor, sich von den alltäglichen Belastungen erdrücken zu lassen. Wor­ship, so der englische Ausdruck, öffnet Räume für Gottes Wirken und schafft Lebensfreude. Lobpreis kann eine heillose Situation entkrampfen.

Wenn Gebet so persönlich ist, wozu ist dann ein Ratgeber nötig? 

„hörgott“ ist kein Ratgeber. Das Buch ist eine Sammlung von alltagstauglichen Gebeten – es sind humorvolle Beispiele darunter und ganz tiefe mystische Texte. Gebete aus dem 20. Jahrhundert und viele heutige Beispiele. „hörgott“ ist auch ein Fundus für Momente von Müdigkeit oder Trauer, wo einem keine persönlichen Formulierungen einfallen. Auch für den morgendlichen Start braucht es eine Hilfe. Dem nahenden Tsunami von Sorgen und Anforderungen kann ein gutes Gebet Paroli bieten.

Wie beten Sie?

Wahrscheinlich mit ähnlichen Schwierigkeiten wie die meisten Leute (lacht). Morgens beginne ich mit den Laudes zusammen mit meiner Hausgemeinschaft. Während des Tages versuche ich zumindest eine halbe Stunde in Stille zu verbringen: Nur auf Jesus schauen, das genügt. Gebet ist für mich Begegnung – allen Zerstreuungen zum Trotz. Obwohl ich kein großer Beter bin, schließe ich gerne konkrete Menschen und deren Anliegen in mein Gebet ein. Gerade in dieser inneren Verbundenheit spüre ich immer deutlicher den Herzschlag Gottes.

Haben Sie ein Lieblingsgebet aus dem Buch?

Ja, ein ganz kurzes: „Jesus, ich vertraue auf dich!“ Damit ist alles gesagt. Für das Buch wurden geistvolle Texte ausgewählt, die weder frömmeln noch ein falsches Pathos vor sich hertragen. Es war mir wichtig, dass sie gut verständlich sind. Vor allem gibt es auch inspirierende Gebete für jene, die sich mit vielen Fragen und Zweifel herumschlagen. 

Ältere Menschen sagen: Ich habe schon so viel erlebt, ich kann gar nicht mehr beten. Was kann ein Seelsorger darauf sagen?

Mit Ratschlägen wäre ich vorsichtig. Vielleicht gelingt es, die ausgesprochene Not auszuhalten, auch mit einer Stille. Meist öffnet sich dann ein Raum, in dem sich eine alte Enttäuschung lösen kann. Beten heißt auch Klagen, Ohnmacht benennen, ja manchmal sogar mit Gott zu streiten. Er hält das aus. Gott hat doch kein Interesse an frommen Texten. Er möchte, dass wir unser Herz vor ihm ausschütten. Persönlich hat mir oft das Rosenkranzgebet geholfen. Ich konnte mit Maria den Blick auf Jesus richten. Von ihm geht Frieden aus. 

Interview: Matthias Petersen

 

Viele Gebete aus dem Buch sind mit einer App abrufbar. Internet: www.hörgott.com