Ausstellung
Über Prasser, Schwerter und Maulwurfshügel
Stefan Branahl
Von Stefan Branahl
Eine Urkunde wie so viele. Aber diese hängt aus gutem Grund in der Ausstellung: Ab sofort dürfen die Mitglieder der frommen Kalandbruderschaft unter Absingen des Wechselgesangs „Diskubuit Jesus“ durch die Rintelner Straßen ziehen, gewährt am 5. April 1494 der Bischof von Minden. Die Kalandbrüder müssen ein bemerkenswerter Verein des Mittelalters gewesen sein, sie kümmern sich nicht nur um das Lob Gottes und den bedürftigen Nachbarn, sondern denken vor allem gut und gerne an sich, irgendwann wurden sie zum Synonym für Prasser und Trunkenbolde. Wie dem auch sei – am Beispiel der Kalandbrüder haben wir heute eine Ahnung, wie geistlicher Gesang des Mittelalters damals in der Rintelner Stadtkirche St. Nikolai geklungen hat; denn durch Zufall ist Museumsleiter Stefan Meyer im Internet auf einen Chor aus Prag gestoßen, der vor Jahren genau jenes „Diskubuit Jesus“ eingesungen hat.
Eine neue Waffe
aus Superstahl
Gleich gegenüber der Urkunde präsentiert uns die Ausstellung „Schaumburg im Mittelalter“ ein verrostetes Schwert. Gefunden wurde es vor ein paar Jahren beim Kiesabbau an der Weser rund zehn Kilometer flussaufwärts. Es steht für die Geschichte der Christianisierung dieser Gegend. Das „Ulfertschwert“ (der Name ist in die Klinge graviert) gehört zu den Waffen, mit denen Karl der Große auf die heidnischen Sachsen einschlug. Übrigens nur einen Steinwurf von Rinteln entfernt, im Süntel, kam es damals zu einer der entscheidenden Schlachten. Das Ulfertschwert war aus dem Superstahl seiner Zeit wohl im Raum Solingen geschmiedet und in den Händen der fränkischen Truppen ein durchschlagendes Argument im Wortsinn. Es dauerte allerdings nicht lange, bis auch die gegnerischen Sachsen die im Kampf eroberte Waffe nach allen Regeln der Kriegskunst einzusetzen wussten und damit zurückschlugen. 150 dieser Ulfertschwerte sind den Archäologen inzwischen bekannt.
Egal, ob Dörfer oder Städte, die deutsche Sprache mit den überlieferten Familien-, Orts- oder Flurnamen, Baugeschichte, Kultur, Machtstrukturen, religiöse Praxis, unsere Rechtsvorstellungen – vieles hat seine Wurzeln in der Zeit des Mittelalters, die etwa um 500 begann und mit dem Jahr 1500 endete. All das lässt sich auch erzählen am Beispiel des Schaumburger Landes, einem überschaubaren Gebiet zwischen Hameln, Porta Westfalica und Steinhuder Meer. Schlaglichter hat Stefan Meyer für die Ausstellung zusammengestellt – und wir lernen anhand solcher Beispiele, dass dieses Schaumburg in seiner Geschichte eine viel größere Bedeutung gehabt hat als wir ahnen, wenn wir heute auf der A2 im Weserbergland im Dauerstau stehen.
Kirche, Adel, Politik. Dieser Dreiklang bestimmte das Leben damals, zumal das eine oft nahtlos in das andere überging, erfahren wir bei einem Rundgang. Die Schaumburger Grafen waren ein echter Machtfaktor ihrer Zeit – mit großem Einfluss, der bis nach Schleswig Holstein und Böhmen reichte. Wie zu jener Zeit üblich, sorgten sie für ihnen genehme Besetzungen des Mindener Bischofsstuhls, möglichst aus eigenem Nachwuchs. Der Mindener Bischof wiederum förderte die Klöster an der Weser, von denen Möllenbeck ein bemerkenswertes Beispiel ist. Möllenbeck, heute ein verschlafener Ortsteil von Rinteln, war ein wichtiges Zentrum geistlicher und politischer Macht, ausgestattet mit allem, was damals gut und teuer war. Ein Beispiel, das uns in der Ausstellung erzählt wird: Durch Zufall stieß Museumsleiter Meyer kürzlich auf 300 Jahre alte Akten im Staatsarchiv Marburg, wonach eine Glocke des Möllenbecker Klosters nach seinem Niedergang ans hessische Bad Sooden-Allendorf verkauft worden war, wo sie heute noch in einem Turm hängt. Gegossen hat sie der Niederländer Gerhard van Wou am Johannistag des Jahres 1507, eben jener Meister, der die größte Glocke des Mittelalters geschaffen hat, die „Gloriosa“ im Dom zu Erfurt.
Maurischer Einfluss
an der Weser
Apropos Handwerkskunst: Wie eng verbunden eine Kleinstadt wie Rinteln seinerzeit mit dem Rest der Welt war, zeigt uns ein Blick auf das Südportal der alten Marktkirche. Wer sich etwas mit Kunst- und Baugeschichte auskennt, entdeckt dort einen im weiten Umkreis einmaligen sogenannten Lappenbogen. Seinen Ursprung hat dieses Stilelement in Spanien, wo es die Christen im 12. Jahrhundert von den arabischen Mauren übernommen haben. „Eingebaut wurde es wohl von reisende Steinmetzen“, vermutet Stefan Meyer. „Rinteln lag an einer wichtigen Handels- und Pilgerstraße, die Magdeburg mit Santiago de Compostela verband.“
Vor der Versenkung gerettet hat der Museumsleiter übrigens einen Schatz, um den ihn mancher Kollege beneidet: drei mittelalterliche Glasfenster aus dem benachbarten Stift Obernkirchen, vermutlich aus den Privaträumen der damaligen Äbtissin. Ein zeitgenössischer Kaiser in vollem Prunk, eine symbolträchtige Darstellung der Muttergottes mit Kind und eine Ordensfrau (möglicherweise die Nonne Merwynda, die das Stift nach der Zerstörung durch die Ungarn wieder aufgebaut hat) – ganz unterschiedliche Motive mit einer Gemeinsamkeit: Alle Bilder zeigen die charakteristischen Doppeltürme der Kirche. Meyer: „In Niedersachsen gibt es nur zwei weitere Museen, die Glasmalerei des Mittelalters zeigen können.“
Die Ausstellung „Mittelalter in Schaumburg“ verteilt sich über drei Räume und ist Geschichtsunterricht der allerbesten Art. Das liegt nicht nur an den bemerkenswerten Exponaten in den Vitrinen. Faszinierend sind die alten Landkarten, die auf riesige, von hinten beleuchtete Leinwände reproduziert wurden und mehr Details zeigen als es die Originale könnten. Das liegt aber auch daran, dass modernste Untersuchungsmethoden der Archäologie einfließen. Wir lernen beispielsweise: Kaum eine der Dorfkirchen des Schaumburger Landes steht aus reinem Zufall an ihrem Ort. Ihre oft wuchtigen Wehrtürme waren Teil eines ausgeklügelten Verteidigungssystems aus Gräben, Dornenhecken und Wallanlagen, aus den Luken ließ sich das Land überwachen, die dicken Mauern boten Schutz bei kriegerischen Auseinandersetzungen wie der Hildesheimer Stiftsfehde.
Es macht Sinn, noch einmal auf Möllenbeck mit seinem Kloster zurückzukommen. Die voll entwickelte Stadt des Mittelalters wurde später – wohl zu Gunsten des strategisch günstiger gelegenen Rintelns – aufgegeben und verfiel. Als einzige der heute in Niedersachsen fünf bekannten Stadtwüstungen gibt ihr genauer Ort den Archäologen noch Rätsel auf. Antworten erhofften sie, als kürzlich in einem Maulwurfshügel Keramikscherben gefunden wurden. Fehlanzeige, sie stammten aus jüngerer Zeit. Aber so ein Maulwurfshügel zeigt: Er lohnt durchaus einer genaueren Betrachtung, bevor man ihn mit der Schaufel platt haut.