Unterwegs als Märchenerzählerin

Am Ende gewinnen die Kleinen

Image
22_01_maerchenfrau.jpg

Ohne Märchen würde uns etwas fehlen – findet Judith Rönker. Die 28-jährige Dekanatsjugendreferentin entdeckt in diesen Geschichten aus aller Welt viele Zusagen an das Leben und Weisheiten für das Leben. Und deshalb engagiert sie sich gern als Märchenerzählerin.


Judith Rönker arbeitet als Dekanatsjugendreferentin im katholischen Jugendbüro in Twistringen. Privat engagiert sie sich als Märchenerzählerin. Foto: privat

Judith Rönker packt keine großen Requisiten aus, wenn sie als Märchenfrau ins Haus kommt. „Ich brauche keine große Bühne, sondern nur einen ruhigen Ort. Die Bilder entstehen dann von selbst in den Köpfen meiner Zuhörerinnen und Zuhörer.“ Wenn sie bei Konzertabenden, bei Pilgerreisen, in Kirchen oder in Büchereien zu Gast ist, sitzt sie schlicht auf einem Stuhl oder im Sessel. Nur eine kleine Holztruhe steht zu ihren Füßen – mit einer Gemshorn-Flöte darin. 

Auf diesem ungewöhnlichen Instrument spielt sie eine sanfte Melodie und beginnt dann zu erzählen: ohne Buch, ohne Manuskript, einfach so. Sie gibt den Märchen ihre Stimme. Wie in dem aus Afghanistan von einem König, der seinen besten Ratgeber in einem einfachen Flickschuster findet. Diese Geschichte von Gottvertrauen und Gewitztheit, von Weisheit und Zuversicht in das „Morgen“ mag Judith Rönker besonders gerne – „gerade in diesen Zeiten“.

Die 28-Jährige arbeitet seit Sommer 2020 als Dekanatsjugendreferentin im katholischen Jugendbüro im Dekanat Twistringen. Dort entwickelt sie mit jungen Leuten verschiedene Angebote für junge Leute. Und setzt auch dort gelegentlich Geschichten aus aller Welt ein – wie zum Beispiel bei märchenhaften Spaziergängen mitten durch die Natur. Judith Rönker hat gute Erfahrungen mit solchen Projekten gemacht. Aber sie freut sich, wenn sie auch anderswo im Bistum als Märchenerzählerin unterwegs sein darf.

Ihr selbst sind Märchen von Kindesbeinen an aus dem Elternhaus in Löningen vertraut. Aber dass es weit mehr als nur die „Grimm’schen“ gibt, erfährt sie vor allem bei einem Praktikum noch vor dem Abitur in der Katholischen Akademie Stapelfeld in Cloppenburg. Sie arbeitet dort einige Zeit im Team mit, um sich ihres beruflichen Weges gewisser zu werden. Seitdem weiß Rönker, dass sie Bildungsarbeit machen möchte – „und dass ich an die Seite von Menschen gehöre: In dieser Begegnung kann ich Gott spüren.“ 

Aber das Praktikum bringt sie auch in engen Kontakt zu Märchen. Denn in Stapelfeld lernt sie Heinrich Dyckerhoff kennen, seinerzeit Direktor der Akademie und viele Jahre Präsident der in Rheine ansässigen Europäischen Märchengesellschaft. Dyckerhoff hat sich seit fast 30 Jahren einen Namen als Märchenerzähler, Autor und Herausgeber von Märchen gemacht. Und er kann auch Judith Rönker dafür begeistern. „Als ich dort bei ihm Märchen hörte, war das wie ein Wow-Effekt“, erinnert sie sich. „Das hat etwas in mir berührt und mich nicht mehr losgelassen.“ Die junge Frau begreift in vielen dieser Geschichten, die sie fortan hört und liest, so etwas wie Begleiter für ihr Leben.

„Ich muss die Geschichten mögen, die ich erzähle“

Nach der Ausbildung zur Buchhändlerin und während des Studiums der katholischen Religionslehre und Philosophie in Münster will sie dann selbst lernen, die starke Botschaft der Märchen weiterzugeben. Sie macht über zwei Jahre hinweg einen achtteiligen Kurs bei der Europäischen Märchengesellschaft mit. Dort bekommt sie, neben echtem Handwerkszeug, ein besseres Gefühl für und einen eigenen Zugang zu Märchen. „Ich muss die Geschichten mögen, die ich erzähle, und ich muss eine Wahrheit darin entdecken. Sonst geht es nicht.“ 

Was man sonst noch braucht? Judith Rönker schmunzelt bei dieser Frage. „Vor allem Leidenschaft, Liebe und Begeisterung für Märchen.“ Sie selbst erzählt nur Volksmärchen: uralte Geschichten, die seit Jahrhunderten in Kulturen rund um den Globus überliefert worden sind. Nicht länger als eine halbe Stunde und nicht überfrachtet mit zu vielen Details dürfen die sein, sonst würde es für die Gäste zu anstrengend. Dabei reicht die Palette von Weisheits- über Zauber- bis zu Tiermärchen. 

Ihre persönlichen Lieblingsgeschichten stammen aus dem keltischen Raum oder von den Inuit. Denn trotz der zum Teil fremden Bilder steckt in jenen Märchen aus dem ewigen Eis für Judith Rönker „eine große Zärtlichkeit“. Wenn sie solche Märchen vorträgt, dann lernt sie diese nicht etwa Wort für Wort auswendig – sondern eher „inwendig“. Durch mehrfaches Lesen und Sich-selbst-Erzählen verinnerlicht die junge Frau die Handlung und kann später die Szenen im Kopf abrufen. Daher klingt auch nicht jede Geschichte Satz für Satz gleich. Aber eines haben diese Geschichten immer gemeinsam: ein Happy End. „Das ist wichtig für mich.“

Passt diese Passion zu ihrer Arbeit als Dekanatsjugendreferentin? Das bejaht Judith Rönker sofort, „auch wenn das natürlich keine Hauptrolle spielt.“ Aber sie baut es gern bei Kursen mit ein: als Einstieg in den oder Ausstieg aus dem Tag, als Impuls vor einer Einheit. „Das ist immer schön und spannend“, sagt sie, gerade für jüngere Leute. Denn Rönker empfindet Märchen als Begleiter, als Helfer und ein wenig auch als Seelsorger. In vielen dieser Geschichten steckt für sie eine Zusage: „Du darfst Schwächen haben, du musst nicht perfekt sein. Aber trotzdem bist du unendlich wertvoll.“ Rönker hat das oft entdeckt. 

„Man kann darin viel über sich selber lernen“, sagt sie und beschreibt die Geschichten wie einen Spiegel, in dem man sich und sein eigenes Handeln reflektieren kann. „Märchen bringen wesentliche Lebensthemen mit.“ Wie Liebe, Schmerz, Tod, Erwachsenwerden, Freundschaft, Solidarität, Toleranz, Mut. Und immer werden darin Herausforderungen gestellt, die gelöst werden müssen: alleine oder besser gemeinsam. „Aber es gibt auch die Gewissheit, dass man sie meistern kann.“ Denn eines gefällt Judith Rönker am besten an den meisten Volksmärchen: dass die Kleinen, die Unscheinbaren, die nur vermeintlich Dritten gewinnen. „Ein Happy End gibt es nur für die Guten.“ Und das entspricht irgendwie auch ihrer eigenen Hoffnung. 

Petra Diek-Münchow

Wer Interesse daran hat, Judith Rönker und Märchen zu hören, kann sich per E-Mail melden (unter ihrem Mädchennamen): judith.baalmann@online.de