Sicherheit von Juden in Europa

"Antisemitismus ist das wichtigste Problem"

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Seit 2015 ist Katharina von Schnurbein die Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission. Ihre wichtigste Aufgabe ist der Austausch mit jüdischen Gemeinden in Europa. Im Interview äußert sie sich über die Zunahme antisemitischer Vorfälle und die Sicherheit von Juden in Europa.

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Juden sorgen sich um ihre Sicherheit: Die Bekämpfung des Antisemitismus wird zur europäischen Aufgabe. Foto: kna


Frau von Schnurbein, wie hat sich das Thema Judenfeindlichkeit in den vergangenen Jahren in Europa entwickelt?
Antisemitismus ist eine europäische Herausforderung, weil wir eine Zunahme der Vorfälle überall in Europa sehen. 85 Prozent der Juden in der EU sagen laut einer Umfrage, die am Montag veröffentlicht wird, dass Antisemitismus das wichtigste Problem für sie ist - wichtiger etwa als Arbeitslosigkeit. Antisemitismus hat es sicherlich immer gegeben. Nun werden Vorfälle in manchen Mitgliedsstaaten jedoch besser erfasst, so dass das Problem sichtbarer wird.

Gibt es Unterschiede in den verschiedenen Regionen Europas?
In Westeuropa gaben 40 Prozent der Befragten in der neuen Studie an, dass sie sich vor einem körperlichen Angriff mit antisemitischen Motiven fürchten. Die Hälfte der Befragten rechnet mit verbalen antisemitischen Attacken. Juden in Westeuropa überlegen, ob sie in bestimmten Vierteln ihre Kippa tragen sollten oder an der einen oder besser der anderen Metrostation aus Sicherheitsgründen aussteigen. In Osteuropa können Juden sich freier bewegen, obwohl auch dort die Vorfälle zugenommen haben. Das Problem in Ost- wie in Westeuropa ist die Zunahme von Verschwörungstheorien: zum Beispiel, dass Juden angeblich die Welt sowie die Politik beherrschen und besonders viel Geld haben. Hinzu kommt das mangelnde Vertrauen in staatliches Handeln.

Wie sehen Sie die Entwicklungen in Deutschland und den Nachbarländern?
In Deutschland gibt es große Fortschritte. Insbesondere die Erhebung von nicht strafrechtlich relevanten Vorfällen hilft, um die Atmosphäre widerzuspiegeln. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hat dabei eine Schlüsselposition. In Frankreich variieren die Zahlen. Nachdem 2015 die Sicherheit von jüdischen Einrichtungen erhöht wurde, gab es weniger Vorfälle. Hier gelten 40 Prozent der rassistischen Vorfälle den Juden. Dabei machen sie weniger als ein Prozent der französischen Gesamtbevölkerung aus.

Welche Rolle spielt überhaupt das Thema Sicherheit?
Wie für jeden Bürger ist Sicherheit auch für Juden entscheidend. Insbesondere, wenn sie sich fragen, ob ihre Zukunft in Europa liegt. Deshalb wollen wir die Sicherheit für jüdische Einrichtungen und Gemeinden verbessern - wobei die Kosten dafür nicht auf die Betroffenen abgewälzt werden dürfen. Sie fragen sich zum Beispiel, ob die staatlichen Schulen für ihre Kinder sicher sind. Viele Juden haben das Gefühl, dass sie ihre Identität nicht ganz offenlegen können, weil sie Gefahr laufen, attackiert zu werden.

Was tut die EU auf diesem Gebiet?
In den vergangenen drei Jahren ist viel auf europäischer Ebene passiert. Wir haben einen Verhaltenskodex mit den großen Internetfirmen geschlossen. Sie haben sich freiwillig verpflichtet, gemeldete illegale Hassrede binnen 24 Stunden zu löschen, und damit auch antisemitische Hassrede. Ebenso haben wir die Datenerfassung von Hass-Kriminalität verbessert und dazu eine hochrangige Gruppe mit Vertretern der Justiz- und Innenminister gegründet. Zudem gibt es Fortbildungen für die EU-Beamten, um ein stärkeres Bewusstsein für das Problem zu schaffen.

Ist das notwendig?
Ja, denn wenn es wirklich um den ganz plumpen rechten rassistischen Antisemitismus geht, erkennen ihn die meisten. Aber es ist eben heutzutage ein bisschen kompliziert, deswegen ist die Antisemitismus-Definition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) wichtig. Lehrer, Polizisten, Richter müssen geschult werden, um das Problem zu erkennen und entsprechend handeln zu können.

Die EU ist seit kurzem fester Partner der IHRA. Warum?
Das Holocaust-Gedenken ist nach wie vor äußerst wichtig. Wir müssen neue Methoden finden, die Geschichte auch Jüngeren und Menschen aus anderen Kulturen nahezubringen. Um Europa zu verstehen, muss man wissen, dass es jüdisches Leben vor der Schoah gab. Erst dann kann man begreifen, was für eine Zäsur die Schoah war und was für ein Wunder es ist, dass wir heute wieder reges jüdisches Leben in Europa haben. Wir müssen alles dafür unternehmen, dass jüdisches Leben auch künftig in Europa möglich bleibt. Deshalb ist es nicht nur im Interesse aller Europäer, den Antisemitismus ganz konkret zu bekämpfen, sondern auch das Vertrauen in staatliche Autoritäten aufrechtzuerhalten. 

kna