Allerheiligen

Auch Heilige zweifeln an Gott

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Heilige sind Vorbilder. Weil sie sich selbstlos aufgeopfert haben. Weil sie für ihren Glauben den Märtyrertod erlitten. Weil sie ohne Unterlass beteten. Aber vielleicht sind sie heute gerade dann ein Vorbild, wenn sie an Gott zweifelten.

	Ein Statue der heiligen Theresia von Lisieux
Eine Statue der heiligen Theresia von Lisieux (heiliggesprochen 1925). Auch sie zweifelte am Glauben. 

Von Christian Feldmann 

Selig lächelnd lässt sie vom Himmel Rosen auf die Erde regnen, in Tausenden Kirchen auf der ganzen Welt: die 1897 mit 24 Jahren gestorbene Ordensschwester Thérèse von Lisieux. Heute noch ist sie der Inbegriff fröhlichen Kinderglaubens und zärtlicher Menschenliebe.

Doch als sie mit dem Tod rang, fragte Thérèse eine Besucherin zwischen Erstickungsanfällen: „Sehen Sie dort unten das schwarze Loch, wo man nichts mehr unterscheiden kann? In einem solchen Loch bin ich mit Seele und Leib. Was für eine Finsternis!“„Aber das kann nicht sein“, erwiderte eine Mitschwester. „Sie schreiben doch so wunderschöne Lieder und Gedichte und Gebete an den lieben Gott!“ Thérèse antwortete müde: „Ich besinge, was ich glauben will – doch ohne jede Empfindung!“ 

„Ich glaube nicht an die Auferstehung“

Im Karmelkloster wusste kaum jemand, dass die immer so bezaubernd lächelnde Schwester bereits seit mindestens eineinhalb Jahren von furchtbaren Glaubenszweifeln gequält wurde. Der Himmel verschließe sich ihr mehr und mehr, vertraute sie ihrer Priorin traurig an: „Ich glaube nicht an das ewige Leben, es scheint mir, dass es nach diesem sterblichen Leben nichts mehr gibt.“ Als einen dunklen Tunnel empfand sie in dieser Zeit ihr Leben, hoffnungslos. „Will ich mein Herz durch den Gedanken an das künftige ewige Leben erquicken, so verdoppelt sich meine Qual. Dann scheint es mir, als liehen sich die Finsternisse die Stimmen der Gottlosen und sprächen mir höhnend zu: Du träumst von Licht, von einer friedlichen Heimat, du träumst vom ewigen Besitz des Schöpfers dieser Herrlichkeiten … Nur zu! Nur zu: Freu dich auf den Tod, der dir nicht das, was du erhoffst, bringen wird, sondern noch tiefere Nacht, die Nacht des Nichts!“

„Weh uns, falls das alles eine Illusion ist“

Ähnliche Zweifel finden sich bei Angelo Roncalli, Papst Johannes XXIII., dem Bauernsohn aus der Lombardei. Am 13. November 1953 begrub er, damals noch Patriarch von Venedig, seine geliebte Schwester Ancilla. Bevor der Sarg zugenagelt wurde, hatte er sie zärtlich auf die Stirn geküsst. Die alten Frauen aus den Bauernhäusern murmelten den Rosenkranz. In der Dunkelheit, ein Herbststurm fegte über die Hügel, eilte Roncalli zum Bahnhof zurück. Sein Sekretär hörte ihn tonlos flüstern: „Guai a noi se fosse tutta un illusione! – Weh uns, falls alles eine Illusion ist.“

In unserer Zeit war es Mutter Teresa von Kalkutta, die Ikone leidenschaftlicher Liebe zu den Ärmsten, die zehn Jahre nach ihrem Tod ihre begeisterten Verehrer erschreckte: Ihre privaten Aufzeichnungen offenbarten eine Seele voll Dunkelheit und Zweifel. „Der Himmel bedeutet nichts mehr, für mich schaut er wie ein leerer Platz aus“, stellte Mutter Teresa fest, gequält von der Angst, „dass Gott mich nicht will – dass Gott nicht Gott ist – dass Gott nicht wirklich existiert“. Und weiter: „Wofür arbeite ich? Wenn es keinen Gott gibt, kann es auch keine Seele geben. – Wenn es keine Seele gibt, dann Jesus – bist auch Du nicht wahr. – Der Himmel, welche Leere ...“ Und bitter fragte sich das Vorbild für viele: „Die Leute sagen, dass sie sich näher zu Gott gezogen fühlen, wenn sie meinen festen Glauben sehen. Ist das nicht ein Betrug an den Leuten?“

Hinter solchen Erfahrungen steckt das Wissen, dass Glaube immer ein Risiko ist und nie ein Besitz. Und die Zerrissenheit eines Menschen, der die Welt der Armen in ihrer ganzen scheußlichen Realität wahrnimmt und gleichzeitig mit allen Fasern seines Herzens daran glaubt, dass ein guter Gott diese von Grausamkeit und Gewalt, Egoismus und Gemeinheit erschütterte Erde geschaffen hat.

Menschen wie Mutter Teresa gelingt es – unter Tränen! –, solche bitteren Erfahrungen zu verwandeln: Das Gefühl, von Gott nicht geliebt zu sein, bringe sie den Armen noch näher und bedeute die Teilnahme an der Passion Jesu, erklärt sie und entschließt sich, dann eben „die Dunkelheit zu lieben“. 

Einsamkeit und Zweifel: Zum Glück sind die Heiligen keine blutleeren Gipsfiguren, sondern Menschen mit einem besonders starken Maß von Leidenschaft und Gefühlen. Menschen, die radikal für eine Idee oder für andere leben, die ihr Innenleben wachsam reflektieren, denen nichts so verhasst ist wie bürgerliches Mittelmaß; da gibt es zwangsläufig emotionale Probleme, Sinnkrisen, Zweifel an der eigenen Motivation.

Was auf den ersten Blick wie müder Zweifel an Gottes Nähe aussieht, könnte eine sehr moderne Form von Mystik sein. Die Gottesfinsternis als Weggemeinschaft mit den Verzweifelten, die an einen fernen, vom Elend scheinbar ungerührten Weltenschöpfer nicht mehr zu glauben vermögen. Am Ende versprach Mutter Teresa dem schweigenden Gott verschwörerisch wie ein verliebtes Mädchen: „Ich werde dein verborgenes Angesicht anlächeln – immer.“

Gute Wegbegleiter gerade für unsere Zeit

Mochte Gott schweigen – Mutter Teresa liebte ihn, entschlossen, hartnäckig, unbekümmert um ein Echo: „Nicht für das, was Er gibt“, liebte sie ihn, „sondern für das, was Er ist.“ – „Nein, Pater, ich bin nicht allein“, teilte sie einem Priester, dem sie leidtat, fast trotzig mit. „Ich habe Seine Dunkelheit – ich habe Seinen Schmerz – ich habe die schreckliche Sehnsucht nach Gott – zu lieben und nicht geliebt zu werden.“

Es könnte durchaus sein, dass gerade diese Heiligen, die die Gottesfinsternis erlebt haben, gut in unsere Zeit passen. Dass ihre Zweifel uns trösten. Dass sie uns einladen, trotz eigener Zweifel zu lieben, gegen Ungerechtigkeit und Gewalt zu kämpfen. „Wenn man einmal Gott in sich hat, dann ist das fürs Leben“, sagte Mutter Teresa einmal. „Und wenn die Ungewissheit bleibt?“, wollte ihr Gesprächspartner wissen. Teresas Erwiderung hat er nie vergessen: „Das ist dann die Zeit, auf die Knie zu fallen.“