Stefan Hoffmann erlebte geistlichen Missbrauch
Ausgebrannt für Gott
„Es war wie in der Urkirche“: Stefan Hoffmann startete als junger Mann mit viel Enthusiasmus sein Leben in einer christlichen Gemeinschaft. Er meinte zu wissen, was Gott von ihm will. Doch es kam alles ganz anders. Von Ruth Lehnen
Der Traum kehrte immer wieder. Und ging so: Er ist ganz nach oben geklettert, auf einen hohen Baum. Als er die Spitze erreicht, beginnt der Baum zu fallen. Und er fällt mit, erst langsam, dann immer schneller, in den Abgrund. Stefan Hoffmann (47), der Leiter des Kirchenladens „punctum“ in der Innenstadt von Frankfurt am Main, spricht ganz ruhig über seine Vergangenheit. Was er heute verarbeitet hat, hätte ihn fast das Leben gekostet. Er war mit 21 Jahren in eine neue geistliche Gemeinschaft eingetreten. Zuerst war er dort überglücklich. Später verwandelte sich sein Lebenstraum in einen Albtraum: Hoffmann ist ein Betroffener von geistlichem Missbrauch.
Der Name der Gemeinschaft, der er angehörte, sei nicht entscheidend, sagt er: Es geht ihm nicht um eine Abrechnung, sondern darum, dass geistlicher Missbrauch in Zukunft verhindert wird. Der Theologe ist überzeugt, dass grundsätzlich alle geistlichen Gemeinschaften anfällig sind für geistlichen Missbrauch. Sein Beispiel sei nur eins von zu vielen.
Die Kehrseite der Medaille sah er nicht
Acht Jahre gehörte er „zur besten, schönsten Gemeinschaft der Welt, in der genau das gelebt wird, was Gott will“. Davon war Stefan Hoffmann zu 100 Prozent überzeugt. Er war schon als Kind sehr gläubig gewesen: „Der Glaube war mein Fundament.“ Deshalb wollte er Gott etwas zurückgeben – Gott eine Freude bereiten. Als er auf die Gemeinschaft traf, war das eine Antwort auf seine Sehnsucht, intensiver mit Gott zu leben.
Seine Stimmung, als er in die Gemeinschaft eingetreten war, ähnelte der eines frisch Verliebten: Er fand das Leben dort toll und hatte das Gefühl, in ein großes Abenteuer gestartet zu sein. Die Kehrseite der Medaille sah er zunächst nicht. Wenn er hörte, ein echter Christ müsse „das Boot verbrennen, auf dem er gekommen ist“, er müsse alle Brücken zum alten Leben abbrechen und nur noch auf Gott bauen, bejahte er das, wenn es ihm schwerfiel, strengte er sich umso mehr an.
Als das Leben in der Gemeinschaft immer schwieriger wurde, sah er das als Prüfung Gottes an, in der er sich als treu erweisen sollte. Gehorsam wurde großgeschrieben in der Gemeinschaft – und Gehorsam gegenüber den Oberen wurde gleichgesetzt mit dem Gehorsam gegenüber Gott.
Das Wort "Nein" war verpönt
Die Gemeinschaft schickte ihn nach Österreich, nach Frankreich, nach Afrika. Nach Afrika hatte er nie gewollt. Der Marschbefehl kam in der Karwoche am Ende eines geistlichen Gesprächs um Mitternacht: „Ach übrigens, Dein Pastoraljahr machst Du in Afrika.“ Vermutlich hätte er „Nein“ sagen können. Aber „Nein“ war verpönt, ein Wort, das man besser nicht sagen sollte, eher „Ja“ wie Maria. Vor der Abreise zitierte der Generalmoderator der Gemeinschaft bei der Übergabe des Ordensgewands die Bibel: „Und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.“ (Johannes 21,18)
In Afrika kam der Zusammenbruch. Hoffmann erkrankte mehrmals an Malaria, lag am Ende isoliert und hilflos auf seinem Bett. Durch das Fenster sah er auf das Grab eines Mitbruders, der ein paar Jahre zuvor an Malaria gestorben war. In letzter Minute kam er psychisch schwer angeschlagen und körperlich krank in die Heimat zurück und zunächst wieder bei seinen Eltern unter. Dort erholte er sich, wenn auch langsam. Wie sollte es weitergehen?
Er hatte prägende Jahre in der Gemeinschaft verbracht, in denen andere eine Berufsausbildung machen und Beziehungen suchen. In Österreich hatte er begonnen, Theologie zu studieren. Daran knüpfte er jetzt an. Es fiel ihm zunächst schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder fragte er sich: Was ist schiefgelaufen?
Was hatte Gott getan? Wo war er gewesen?
Er war wütend auf Gott: Hatte er, Stefan, nicht alles getan, hatte er nicht seinen Part erfüllt? War er nicht treu gewesen? Und was hatte Gott getan? Wo war Gott gewesen? Sein Grundvertrauen in Gott war weg. Nachts hatte er Albträume – fiel in den Abgrund, immer wieder. Am Tag behielt er seinen alten Lebensrhythmus bei: „Ich ging weiterhin jeden Tag in die Messe. Das war mir wichtiger als alles andere.“ Er suchte Hilfe, auch bei der Kirche, aber niemand konnte ihm helfen.
Noch während seines Studium „implodierte“ die Gemeinschaft, so drückt es Stefan Hoffmann aus. Führende Mitglieder wurden des sexuellen Missbrauchs überführt. Und Hoffmann begegnete dem Buch von Inge Tempelmann: „Geistlicher Missbrauch“. Zum ersten Mal fand er dargestellt, was ihm zugestoßen war: Nicht eine einzelne traumatische Erfahrung, aber häufige Grenzverletzungen. Eine Entmündigung, die ihn immer ohnmächtiger gemacht hatte.
„Einmal alles auf eine Karte gesetzt“
Er verstand, dass er mit dieser Erfahrung nicht allein war. „Mir wurde klar, dass es nicht Gott gewesen war, der mir all das auferlegt hatte. Im Kopf hatte ich das bald klar.“ Aber nicht im Gefühl. Er brauchte Jahre, um gesund zu werden, seine Erlebnisse aufzuarbeiten und seine Theologie neu zu sortieren.
Hoffmann sagt, er habe Glück gehabt, weil er seinen Glauben nicht verloren hat. „Ich bin mit Gott im Reinen.“ Inzwischen kann er glauben, dass Gott ihn nicht verlassen hat in seiner schlimmen Zeit. „Heute bin ich ein glücklicher Mensch und mit meiner Vergangenheit versöhnt. Ich habe einmal alles auf eine Karte gesetzt, um Jesus nachzufolgen, und das bereue ich nicht.“
Von Ruth Lehnen
Zur Sache:
Spiritueller Missbrauch: die Forderungen
Stefan Hoffmann hat gemeinsam mit anderen Betroffenen geistlichen Missbrauchs in einem Offenen Brief an die Bischöfe Georg Bätzing und Heinrich Timmerevers folgendes gefordert:
– unabhängige, systematische und flächendeckende Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch
– Präventionsmaßnahmen und die Schaffung von Straftatbeständen im kirchlichen Strafrecht
– einen anhaltenden offenen Dialog mit Betroffenen.
Stefan Hoffmann ist wichtig, dass Geistliche Begleiter über eine entsprechende Ausbildung verfügen müssen, dass es Ansprechpartner für Betroffene von geistlichem Missbrauch in allen Bistümer gibt und dass Mitarbeiter in kirchlichen Beratungsstellen für das Thema sensibilisiert sind. (nen)