Hilfe für Geflüchtete aus Venezuela

"Da wusste ich, wofür ich kämpfen muss"

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Millionen Menschen sehen in Venezuela keine Zukunft mehr und fliehen vor Hunger und Armut. Vanessa Martinez hat versucht, sich in Kolumbien ein neues Leben aufzubauen. Sie drohte zu scheitern – bis die Caritas ihr eine Perspektive gab. 

Foto: Caritas international/Philipp Spalek
Glücklich: Vanessa Martinez mit ihrer kleinen Tochter Foto: Caritas international/Philipp Spalek

Von Achim Reinke

Wenn Menschen ihr Zuhause für immer verlassen müssen, dann geben ihnen in der Fremde oft kleine Dinge Halt. Bei Vanessa Martinez ist es ein rosarotes Trinkglas. Es erinnert sie an einen der letzten glücklichen Momente in Venezuela. Ihre Lieblingsmannschaft „Los Leones de Caracas“ hatte im Baseball gegen den Rivalen „Los Navegantes Valencia“ gewonnen. Ins Trinkglas, das es zur Eintrittskarte dazugab, wurde noch mal nachgeschenkt. Die Freude war überschäumend. Ein letztes Mal. Denn da zeichnete sich schon ab, dass die 35-Jährige ihre Heimat, ihre Familie und ihre Freunde bald würde verlassen müssen.

Zu schwierig war schon damals die Lage im einst prosperierenden Venezuela. Das südamerikanische Land hatte lange gut von den größten Erdölreserven der Welt gelebt. Der Reichtum wurde anfangs sogar an die Bevölkerung weitergereicht; es wurde ins Gesundheitssystem, in Bildung und Ernährungsprogramme investiert. Mit dem Verfall des Ölpreises war das vorbei. Misswirtschaft, Korruption und internationale Sanktionen taten ihr Übriges. Seit mindestens zehn Jahren taumelt das Land am Abgrund. Schulen müssen den Unterricht einschränken, weil viele Lehrer das Land verlassen haben. Hospitäler können Kranken nicht mehr helfen, weil es kaum noch Medikamente gibt. 7,1 Millionen Menschen haben Venezuela mittlerweile verlassen. Nur aus Syrien fliehen weltweit mehr Menschen. Es ist die größte Flüchtlingskrise in Lateinamerika.

„Es reichte für uns vorne und hinten nicht zum Überleben, obwohl ich eine gute Arbeit im Krankenhaus hatte“, sagt Vanessa Martinez. Ihre Eltern waren beide krank, sie wollte helfen, konnte aber nicht. „Wenn du schuftest und schuftest, jeden Tag aufs Neue, aber du dir allenfalls Reis und Brot leisten kannst, deinen kranken Eltern nicht helfen kannst, das hältst du nicht lange aus.“

Die Armutsquote in Venezuela liegt bei 96 Prozent

Seit Jahren kann die venezolanische Regierung die Grundbedürfnisse der Bevölkerung nicht mehr befriedigen. Den Mindestlohn von zehn Dollar frisst die Hyperinflation auf. In manchen Monaten gibt es ein Kilo Reis und ein Brot dafür, manchmal auch nur zwölf Eier. Wer nichts zum Verkaufen auf dem Schwarzmarkt hat oder Verwandte im Ausland, der muss am Essen sparen. Die Mangel- und Unterernährung ist dramatisch. Die Armutsquote stieg zwischen 2012 und 2020 von 32 auf 96 Prozent.  

Irgendwann fragte sich Vanessa Martinez: Wie lange kann ich noch gegen Inflation, Misswirtschaft und Korruption ankämpfen? Und gegen ein autoritäres politisches System, das keine Hoffnung auf Veränderung zulässt? 2015 zog sie die Konsequenzen. Mit etwas zu essen, ein paar T-Shirts und Hosen und dem „Leones“-Trinkglas im Rucksack machte sie sich auf den Weg zur kolumbianischen Grenze. Sie schlug sich mehr schlecht als recht durchs Leben, so wie die anderen fast zwei Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner, die in Kolumbien Zuflucht gesucht haben. Sie arbeitete auf dem Feld, half bei Fremden im Haushalt, wurde erniedrigt, bedrängt, musste sich viele Schimpfwörter anhören – das Leben war nicht besser als in Venezuela. 

Der Weg von Vanessa Martinez hätte hier enden können. Ihre Energie für den täglichen Kampf war aufgebraucht, ihr Leben an einem Tiefpunkt, erzählt sie in ihrer Wohnung in Ocaña. In der kolumbianischen Grenzstadt hat sie mittlerweile ein neues Zuhause gefunden. Dort ist auch ihre Tochter zur Welt gekommen. Das war der Wendepunkt. „Da wusste ich wieder, wofür ich kämpfen muss.“

Allerdings hat das Mädchen eine komplizierte Erkrankung am Magen-Darm-Trakt. Ein spezialisiertes Krankenhaus hätte sie behandeln können – doch die kolumbianische Krankenversicherung wollte nicht zahlen. Ein Kampf, wie ihn viele venezolanische Geflüchtete auszufechten haben. Denn oft ist ihr Status ungeklärt. Die wenigsten haben Pässe, weil die Ausstellung der Dokumente in Venezuela das Zwölffache des monatlichen Mindestlohns kostet. Aber ihre Tochter war in Kolumbien zur Welt gekommen. Sie sollte also ein Anrecht auf Behandlung haben, dachte Vanessa. Das bestätigte ihr auch die Caritas in Ocaña. 

„Für venezolanische Neuankömmlinge ist schwer zu durchschauen, welche Ansprüche sie haben, ob Bescheide der Behörden stichhaltig sind“, erklärt Caritas-Anwältin Maryi Vergel. Den Geflüchteten bei diesem Kampf zur Seite zu stehen, ist Teil des Auftrags, den die Caritas in Kolumbien dank des „EuroPana“-Programms der Europäischen Union anbieten kann. Neben der Rechtsberatung gehören dazu auch ein Ernährungsprogramm für Mütter und Kinder, medizinische Hilfen, Mietzuschüsse und psychologische Beratung. 

Erst mit Hilfe der Caritas-Psychologin verstand Vanessa, was sie durchgemacht hatte. Warum sie oft so niedergeschlagen war und ihre Kräfte immer mehr schwanden. „Diese Gespräche waren für mich genauso wichtig wie die Mietzuschüsse“, sagt Vanessa. „Das Loch war so tief, in dem ich steckte, ich weiß nicht, ob ich da allein wieder herausgefunden hätte.“

Heute ist Vanessa Martinez selbst Teil der Hilfe der Caritas. Sie bietet ihre Wohnung für Workshops an, in denen Neuankömmlinge eine erste Beratung bekommen. Die 35-Jährige ist bekannt: Läuft sie durch ihr Stadtviertel, wird sie immer wieder um Rat gefragt.  „Ich habe so viel Hilfe und Solidarität erfahren“, sagt sie. „Davon möchte ich etwas zurückgeben. Wenn du säst, dann kannst du irgendwann ernten. Daran glaube ich ganz fest.“

Der Autor ist Mitarbeiter in der Presseabteilung von Caritas international.