Albert Camus: "Die Pest" wird zum Roman der Stunde
Das auferstandene Buch
Hin und wieder hält man den Atem an, so überraschend aktuell ist das, was in diesem mehr als 70 Jahre alten Buch steht. In Corona-Zeiten ist Albert Camus' Klassiker wiederauferstanden: als Lektüre der Stunde. Von Ruth Lehnen
Der Autor Albert Camus hatte wohl anderes im Sinn als eine Chronologie einer Seuche. Er wollte darstellen, wie das Böse über eine Stadt kommt, eine Heimsuchung. Seine Zeitgenossen lasen das Buch als Beschreibung der feindlichen deutschen Nazi-Besatzung, die alles tötet und erstickt, und der sich nur einige wenige Männer entgegenstellen. Doch große Kunst enthält mehr als der Urheber sich denkt, ein Mehr als Schöpferischem, und so kann das Werk des Franzosen, der in Algier geboren wurde, zur Lektüre der Stunde in Corona-Zeiten werden.
Denn Camus hat auch akribisch beschrieben, wie die Menschen in der Stadt Oran auf die Seuche reagieren. Ihre ersten Versuche, das Unglück zu ignorieren. Ihr Entsetzen, als die Pest beginnt, das Leben zu bestimmen. Den Horror, eingeschlossen zu sein, getrennt von geliebten Familienmitgliedern. Das Sterben der um Luft Ringenden. Den Verfall menschlicher Sitten, den die Epidemie mit sich bringt: zum Beispiel bei den Begräbnissen, die „mit einem Maximum an Schnelligkeit und einem Minimum an Gefahr“ vor sich gehen. Er dokumentiert, wie der Aberglauben im Zeichen der Seuche blüht, er schildert die „Ärzte und Hilfskräfte“, die sich bei ihrer „übermenschlichen Arbeit“ bis zur Erschöpfung verausgaben.
Einer von den Ärzten ist die Hauptfigur Bernard Rieux, der sich erst am Ende als Erzähler und Chronist des Geschehens zu erkennen gibt. Rieux ist einer dieser Männer, die an Hemingways Helden erinnern: nicht reden, sondern handeln. Tun, was dran ist, auch ohne Hoffnung. „Die Pest“ ist ein Buch, das von Männern handelt, Frauen kommen kaum vor. Rieux sitzt wie viele andere Bewohner Orans in der Kirche, als Pater Paneloux predigt, und hört dessen gewaltige Reden. Gäbe solche Gestalten noch in zeitgenössischen Büchern? Nein, denn das Porträt des Jesuitenpaters ist wie in Stein gehauen. Paneloux versteht die Pest als Geißel Gottes und beschwört den großen Dreschflegel der Todes, der über der Stadt kreist: „Meine Brüder, ihr seid im Unglück, meine Brüder, ihr habt es verdient.“
„Froh, dass er besser ist als seine Predigt“
Aber Paneloux kann mehr als nur reden. Er schließt sich den Rettungsmaßnahmen der Männer um Rieux an. Der Arzt kommentiert das trocken: „Ich bin froh, dass er besser ist als seine Predigt.“
Auf den Jesuiten wartet eine große Erschütterung: Er wird, wie Rieux, Zeuge, als ein kleiner Junge, den sie mit allen Mitteln versuchen zu retten, am Ende doch qualvoll stirbt. Der Arzt wirft dem Pater die Worte hin: „Ah, der wenigstens war unschuldig, das wissen Sie wohl!“ Paneloux wird von dem Erlebnis verändert. Er predigt nun anders – eine erschütternde Unterwerfung unter Gottes oft nicht verstandenen Willen – und die daraus folgende Standhaftigkeit und Treue. Der Jesuitenpater überlebt die Pestzeit nicht. Er stirbt, nach schlimmem Todeskampf, das Kruzifix umklammernd. Doch war er ein Opfer der Pest? Nicht eindeutig: Er ist ein „zweifelhafter Fall“.
Der Roman enthält so manche Zumutung wie die Schilderung des Leids, die Frage nach dem Sinn von Leid und Tod, nach dem Willen Gottes und der Stärke der Menschen, die sich vor allem im Mitleiden offenbart. Es ist ein Buch, das eine erste Lektüre oder auch das Wiederlesen lohnt.
Zur Sache
"Die Pest“ des späteren Nobelpreisträgers Albert Camus (1913 bis 1960) erschien auf Französisch im Jahr 1947, auf Deutsch 1949 im Verlag Karl Rauch, Bad Salzig. Im Jahr 1950 war „Die Pest“ das 15. Buch der berühmt gewordenen ersten Taschenbuchreihe „rororo“ (Abbildung). Die Camus-Biographin Iris Radisch schreibt, die erste Fassung der „Pest“ sei in der Einsamkeit eines Krankenhausaufenthalts entstanden, „mit dem Gefühl des Lebendig-Begraben-Seins und des Trennungsschmerzes“.
Das Buch ist lesbar als Chronik einer Epidemie, aber auch als Gleichnis, in dem die Pest für die deutsche Besetzung Frankreichs steht. Zwischenzeitlich war der Roman vergriffen, ist nun aber in der 90. Auflage wieder erhältlich. Den Nobelpreis erhielt Camus 1957. (nen)
„Die Pest“ als Miniserie
Im vom Theater Oberhausen realisierten Projekt „DIE PEST – eine Miniserie“ setzt Videokünstler Bert Zander Albert Camus’ Roman mit dem Ensemble des Theaters sowie mit Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Oberhausen digital in Szene.