Jahresserie 2018 - „Heimat – Wie im Himmel, so auf Erden“

Das eigene Leben mit anderen teilen

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Heimat  – „wie im Himmel, so auf Erden“: In der neunten Folge der Jahresserie geht es um die Menschen, in deren Nähe man sich wohl und geborgen fühlen kann. Der sogenannte Sozialraum umfasst die gelebte Welt. Nichts Gebautes also, keine Orte an sich. Und doch hat die äußere Struktur der sozialen Heimat sehr viel zu tun mit den Möglichkeiten, anderen zu begegnen. Von Evelyn Schwab.

Der Platz der Weißen Rose im Fuldaer Stadtteil Ziehers-Nord. Ein Platz für Feste und Begegnungen – aber wo begegnen die Menschen einander wirklich? | Foto: Evelyn Schwab
Der Platz der Weißen Rose im Fuldaer Stadtteil Ziehers-Nord. Ein Platz für Feste und Begegnungen – aber wo begegnen die Menschen einander wirklich? Foto: Evelyn Schwab

Platz der Weißen Rose im Fuldaer Stadtteil Ziehers Nord: reduziert, schlicht, unaufdringlich und die Mitte einer Siedlung, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf landwirtschaftlich geprägtem Gebiet entstand. Helle Waschbetonplatten belegen die großzügige Freifläche um eine florale Skulptur im Gedenken an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Architekt Herbert Rimpl plante das Quartierzentrum gleich im Verbund mit den umstehenden Gebäuden. Darunter eine Hauptschule mit dem Namen der Geschwister Scholl sowie Kindergarten und Pfarrkirche der katholischen Gemeinde St. Paulus. Das Gotteshaus ist ein achteckiger Raum mit achtseitigem Zeltdach, die Besucher versammeln sich rund um den Altar.

Eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus der Vogelperspektive als Wandbild: Im Stadtteilbüro des Kreisverbands der Arbeiterwohlfahrt erklärt Gemeinwesenkoordinator Bernhard Bormann Struktur und Geschichte des Viertels an der Goerdelerstraße mit seinen rund 2000 Bewohnern. Unten am Hang verläuft eine Zone mit Einfamilienhäusern, Doppelhaushälften, Reihenhäusern. Weiter oben stehen dagegen mehrstöckige Geschossbauten und kleine Hochhäuser. Carl Friedrich Goerdeler, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Dietrich Bonhoeffer, Bischof Clemens August Graf von Galen, Edith Stein – insgesamt elf Namen erinnern auf Straßenschildern an Personen, die Widerstand leisteten in Adolf Hitlers Reich.

„Die Menschen des bürgerlichen Ziehers Nord haben alle gemeinsam begonnen, als junge Familien den Stadtteil aufzubauen.“ Bormann nennt sie „Pioniere“, überwiegend Katholiken der aufstrebenden Pfarrgemeinde St. Paulus. Inzwischen kehre Stagnation ein. Kinder sind weggezogen. Enkel leben woanders. Übrig bleiben ältere und sehr alte Menschen. Alleinstehende Senioren, manchmal vom Alleinsein überfordert. In den Geschosswohnungsblöcken weiter oben am Hang sind soziale Strukturen und Heimatgefühle über Jahre kaum gewachsen. Häufige Ein- und Auszüge lassen mehr Unruhe im Wohnumfeld vermuten. Es leben mehr jüngere Menschen hier als in anderen Stadtteilen, weit mehr als ein Dutzend andere Nationalitäten sind vorhanden. Zahlreiche Spätaussiedler gibt es, eine große türkische Community. Seit einiger Zeit leben auch Migranten im Quartier. In der Von-Stauffenberg-Straße gibt es eine Flüchtlingsunterkunft.

Logo Jahresserie Ein heterogenes Viertel. Wo können sich Menschen dort begegnen? Wo fühlen sie sich wohl und zugehörig? „Für mich ist das Stichwort Vertrauen wichtig“, sagt Dr. Gerd Stern. Der Arzt stammt aus Wiesbaden, lebt seit 1980 in Fulda, inzwischen im dörflich geprägten Stadtteil Dietershan, der zur evangelischen Bonhoeffergemeinde in Ziehers Nord gehört. Stern engagiert sich dort, zum Beispiel bietet er alle zwei Wochen abends einen Meditationskurs an. Und er ist Mitglied im offenen ökumenischen Gesprächskreis, der einmal im Monat in der Bonhoeffer-Gemeinde stattfindet und der ihn mit dem Katholiken Bernhard Bormann zusammenführte. Auch Stern bewegt die Frage, wie sich Brücken schlagen lassen zu den jeweiligen sozialen Milieus. „Offen sein, jemanden anlächeln, versuchen, den Kontakt aufzunehmen“, rät er aus eigener Erfahrung: „80 Prozent der Kommunikation ist Herzenssprache, die kann jeder.“

„Die später Zugezogenen besitzen eine noch viel größere Unsicherheit darin, wie sie anderen im Stadtteil begegnen sollen.“ Das hat Gemeinwesenkoordinator Bormann beobachtet. Der erste Schritt des Aufeinanderzugehens müsse doch denen leichter fallen, die schon länger da sind, meint er. Dennoch nimmt er eher einen Rückzug aller in die ihnen vertrauten Gruppen wahr.

Dazugehören, das möchten doch alle

Auf dem Schwarz-Weiß-Luftbild von Ziehers Nord im AWO-Stadtteilbüro sind mit bunten Pinn-Nadeln und Wollfäden die Akteure für eine Gemeinwesenarbeit verortet. Ein Sportverein ist darunter. Eine Wohnungsbaugesellschaft, die  für ihre Mieter in Ziehers Nord einen Bürgertreff ins Leben gerufen hat, um Integration, Kultur- und Sprachkenntnisse zu fördern, Nachbarschaften zu stärken, Konflikte abzubauen sowie Eigeninitiative und ehrenamtliches Engagement zu fördern. Auch die katholische Gemeinde St. Paulus und die evangelische Bonhoeffergemeinde haben ihre eigenen Sticker.

Auf dem Platz der Weißen Rose feiern evangelische und katholische Christen seit langem gemeinsame Feste. Beide engagieren sich in der ökumenischen Arbeit im Stadtteil. Ebenso wie die Pfarrei St. Paulus entstand die Bonhoeffer-Gemeinde inmitten eines Neubaugebiets. Und inzwischen geraten auch die Menschen über die Grenzen der eigenen Gemeinden hinaus in den Blick.

Wie kann Ziehers Nord Heimat für alle sein, die dort wohnen? Wie lässt sich eine Beziehungs- und Vertrauensebene untereinander schaffen, Anonymität und Misstrauen abbauen? Unter Familien, Wohngemeinschaften, in der Nachbarschaft, innerhalb des Stadtteils – überall bleibt das Bewusstsein des Dazugehörens ganz wichtig.

„Wir müssen in allem neu denken!“, fordert Bormann. „Der Altruismus ist immer als Geschenk Gottes in uns eingepflanzt.“ Das betont auch Stern, der seit seiner Jugend ein „sehr postives Bild“ von Menschen anderer Nationalitäten und Kulturen besitzt: „Ich war mit einem Franzosen befreundet, über ihn mit einem Tunesier.“ Nach dem Abitur besuchte Stern gemeinsam mit mehreren jungen Leuten die antiken Stätten Troja und Pergamon, gelegen in der heutigen Türkei. Die Gastfreundschaft der Menschen sei überwältigend gewesen. Bormann, zuvor Leiter der Flüchtlingsunterkunft Michaelshof in Unterbernhards, hat dies in den Kontakten dort ebenso erlebt.

Miteinander heimisch werden

Der Platz der Weißen Rose ist seit 2005 ein Denkmal. Vor kurzem wurde er im Stil seiner Entstehungszeit während der 1960er Jahre neu gestaltet, sogar die Pflanzflächen in Anlehnung an den Originalbewuchs erneuert. Eine Aufwertung als Treffpunkt. Aber wo können sich die Bewohner wirklich begegnen? Wo lässt sich eine Beziehung zu den Menschen aufbauen, die dort leben? Welches Bild haben sie voneinander? Und entspricht das der Wirklichkeit?

Unmittelbar vor der Skulptur „Weiße Rose“ führt ein Treppenaufgang zur St.-Paulus-Kirche hinauf, geweiht 1967. Damals ging es darum, dass die einander fremden Familien des Neubaugebiets in der Pfarrgemeinde zur Gemeinschaft wachsen sollten. Nun wird es wichtig, dass auch all die Neuen im Stadtviertel heimisch werden.

„Kirche besitzt einen großen Erfahrungsschatz im Miteinander, etwa im Bereich der Besuchsdienste“, hält Bormann fest. Wie könnte man das mit neuen Ideen vernetzen? Damit die große Gruppe alter Menschen im Viertel ihre Einsamkeit überwindet? Momente des Ehrenamtes müssten dazukommen. Und warum denn nicht außerhalb des eigenen Milieus nach Unterstützung suchen?

Der Gemeinwesenkoordinator kennt an die zwei Dutzend ehemalige Geflüchtete, die inzwischen ihren Führerschein gemacht haben. Die würden sehr gerne ab und an einen Fahrdienst übernehmen, um betagte Menschen in ihrer Selbstständigkeit ein wenig zu stützen. Man könnte prüfen, ob Gemeindebusse der Kirchen für solche Fahrten grundsätzlich zur Verfügung stünden. Die Senioren könnten die Erfahrung machen, dass junge Menschen aus der Nachbarschaft sehr wertschätzend mit dem Alter umgingen. Junge Migranten könnten sich womöglich über dieses Engagement für eine Ausbildung in der Pflege begeis-tern lassen. Bormann: „Wir alle haben die Chance, uns von unserer besten Seite zu zeigen. Lasst uns alles tun, damit wir das Leben miteinander fördern!“

 

Was ist ein Sozialraum? Und: Warum der Blick dahin wichtig ist

Winfried Reininger Foto: privat
Winfried Reininger
Foto: privat

„Während meines Industriepraktikums als Hilfsarbeiter bei der Firma Degussa habe ich den ,Sozialraum‘ sehr geschätzt. Der Sozialraum war der Pausenraum, in dem man sich aufwärmen oder in den Frühstücks- und Mittagspausen gute Gespräche führen konnte.
Wenn in der Sozialen Arbeit oder der Pastoral von ,Sozialraum‘ oder von ,Sozialraumorientierung‘ die Rede ist, dann ist etwas anderes gemeint. Wenn die Leiterin einer Kita, eines Caritaszentrums oder eines Seniorenheims davon spricht, man wolle künftig stärker ,sozialraum- orientiert‘ arbeiten, dann möchte man sich stärker in die sozialen Bezüge im sozialen Umfeld, in der Nachbarschaft, im Stadtteil oder der Ortsgemeinde einbringen und die dortigen Lebensbedingungen gemeinsam mit den dort lebenden Menschen verbessern.
Der stärkere Blick in den Sozialraum, in die lebendigen Bezüge von Menschen im näheren lokalen Umfeld, kann auch helfen, die zunehmende Milieuverengung und Überalterung der Pfarrgemeinden aufzubrechen. Die Gemeinde-seelsorge stellt sich dann in den Dienst an allen Menschen im jeweiligen Ort oder Stadtteil. Man versucht, gemeinsam mit anderen Einrichtungen und Vereinen, ein lebenswertes Umfeld zu gestalten. Denn: ,Nur eine dienende Kirche dient der Welt‘, so lautet der Titel eines Buchs des Mainzer Bischofs Peter Kohlgraf.“
Pastoralreferent Winfried Reininger, Bereichsleiter Gemeindecaritas und Engagementförderung beim Diözesancaritasverband Mainz

 

 

 

Ein lohnender Blick in den Sozialraum – Seht, da ist der Mensch

Dr. Susanne Gorges-Braunwarth
Dr. Susanne
Gorges-Braunwarth
Foto: privat

„Der Blick in den Sozialraum leitet einen Perspektivenwechsel ein, der grundlegend für die Kirchenentwicklung ist.
Eine Kirche, die den Menschen in ihren Sozial- und Lebensräumen begegnet, entdeckt eine vielschichtige Wirklichkeit. Deutlich werden Orte und Räume, an denen Menschen Freude und Hoffnung miteinan- der teilen ebenso wie Orte, an denen Menschen trauern und sich ängstigen.
Die Sozialraumorientierung hat sich aus einer Lernpartnerschaft von sozialer Arbeit, Caritas und Pastoral entwickelt. Sie schärft die Wahrnehmung dafür, was vor Ort ist: Was gelingendes Leben behindert oder auch entfalten hilft.
Kirche fragt in ihrem Handeln zuerst nach dem Willen und nach den Bedarfen der Menschen vor Ort. Sie setzt auf eine Beteiligung von Betroffenen, auf die Stärkung ihrer Ressourcen sowie auf die Vernetzung der vorhandenen sozialen und gesellschaftlichen Potentiale.
Mit den neuen Pfarreien eröffnen sich für die Gestalt von Kirche neue Chancen im Zusammenspiel von Seelsorge, diakonischem Engagement und Gesellschaft.
Erleben Sie die Sozialraumorientierung in der Praxis am 19. Oktober in Weilburg und am 26. Oktober in Frankfurt.“ Mehr Informationen dazu: www.pastoralvernetzt.bistumlimburg.de/beitrag/mehr-als-du-siehst-11/
Dr. Susanne Gorges-Braunwarth, Abteilungsleiterin Pastoral in Netzwerken im Bistum Limburg