"Verschickungskinder"
Das Trauma einer Generation
Eine ganze Generation ist in der Nachkriegszeit in die Mühlen eines unethischen Wirtschaftszweigs geraten: Als „Verschickungskinder“ wurden sie, zum Teil im frühesten Kindesalter, von den Eltern getrennt, in „Kur“ geschickt. Viele erlebten Grausamkeiten und kehrten verstört zurück. Von Ruth Lehnen
Kinder sitzen in einem Kastenwagen, können nicht aus dem Fenster schauen. Sie haben einen wochenlangen Aufenthalt auf der Insel Norderney hinter sich. „Endlich, endlich geht es nachhause“, freut sich einer. „Still“, sagt da ein anderer, „wir sind noch nicht auf der Fähre.“ Die Kleinen, geduckt wie Strafgefangene, können nicht glauben, dass ihre Freiheit wiederkommt. Als sie endlich wieder zuhause sind, haben sie etwas mitgenommen von der Zeit auf Norderney: schlimme Erinnerungen. Es sind Dinge, über die sie weder nachdenken noch reden möchten. „Nie mehr betrete ich die Insel Norderney.“ Das sagt ein heute 61-jähriger Mann.
Es ist vor allem das Verdienst der Sonderpädagogin Anja Röhl, dass Geschichte und Geschichten der so genannten Verschickung nach Jahrzehnten endlich aufgearbeitet werden. Millionen Kinder wurden in Westdeutschland in den Jahren zwischen 1950 und 1990 zur „Erholung“ in Kinderheime geschickt, für einen Zeitraum zwischen drei Wochen bis zu mehreren Monaten.
Auch Kleinkinder wurden radikal von den Eltern getrennt
Auch Kleinkinder wurden radikal von den Eltern getrennt: „Ich weiß noch, dass ich mich auf die See gefreut habe. Da waren Kinder, die haben mit den Zehen die Steinchen aufgehoben. Das wollte ich auch. Als ich mich umsah, war meine Mutter plötzlich weg. Ich habe geweint und geschrieen.“ So erzählt den Schock der Trennung eine heute 58-Jährige. Aus ihrer Zeit in Norderney, als sie fünf Jahre alt war, hat sie ein Gefühl der Verlorenheit mitgenommen, das immer wieder ihr Leben beeinflusst hat. Ihrer Mutter war gesagt worden, eine Trennung ohne Abschied sei für ihr Kind leichter. Dem kleinen Mädchen, noch ohne Zeitgefühl, kam ihre Zeit in dem Heim endlos vor, sie hatte sehr großes Heimweh.
Autorin Anja Röhl hat mittlerweile zwei Bücher zum Thema im Psychosozialverlag vorgelegt: „Das Elend der Verschickungskinder – Kinderheime als Orte der Gewalt“. Und „Heimweh – Verschickungskinder erzählen“. Die Erzählungen der heute Erwachsenen sind keine leichte Lektüre. Gewalt war in den Kinderkurheimen an der Tagesordnung. Fast alle, die sich jetzt zu Wort melden, erinnern sich an die Zwangsmaßnahmen beim Essen: Ein Kind, das kein Fleisch mochte, wurde jeden Morgen gezwungen, Wurst zu essen, jeden Morgen brach der Junge die Wurst aus. Acht Wochen lang. Es gab Zwangseinfütterungen, es gab Kinder, die stundenlang vor ihrem Teller sitzen mussten, bis sie alles hinuntergewürgt hatten.
Kleinste Kinder wurden fürs Bettnässen drakonisch bestraft. Wem das passierte, der musste auf dem Gang schlafen, auf einer Pritsche, ohne Decke. Im Winter, denn die Verschickung, zum Beispiel auf die Nordseeinseln, war ein gutgehender Geschäftszweig, der der Kurindustrie Geld brachte, auch wenn die Saison vorbei war.
Erstaunlich, dass so schreckliches Unrecht an so vielen Kinder so lange beschwiegen werden konnte. Das hat mit der eingelernten Scham und Angst und mit Verdrängung zu tun. Doch jetzt ist eine neue Zeit angebrochen für die ehemaligen Verschickungskinder. Sie tauschen sich in Internetforen aus, treffen sich in Zoom- und anderen Konferenzen, sprechen in Filmen wie der sehenswerten Dokumentation „Was ist damals passiert? Meine Kinderverschickung“ (ARD Mediathek) des Hamburger Filmemachers Thilo Eckoldt.
Träger, Kurorte, Krankenkassen, die Bahn – alle haben profitiert
Und sie erheben Forderungen: Sie wollen, dass ihnen endlich zugehört wird, dass ihr Leid anerkannt wird, dass es Gedenktafeln an den heute noch existierenden Heimen wie dem Kaiserin-Friedrich-Hospiz (heute „Seehospiz Norderney“) geben soll. Bis heute hat das Seehospiz nicht mal einen Eintrag auf seiner Homepage, keinen Hinweis auf die Geschichte des Hauses in der Zeit der Verschickungen.
Deutlich wird auch, dass von der Verschickung viele profitiert haben: Im Jahr 1963 waren laut Röhl 839 Kinderheilstätten und Kinderheime ausgewiesen, mit einer Bettenkapazität von 56 608. Davon waren 52,8 Prozent in privater Trägerschaft. 1977 hat die Bahn noch
518 000 Kurkinder transportiert. Träger, Kurorte, Krankenkassen, die Bahn – alle hatten etwas von dem Geschäft mit den Kindern. Und die Eltern? Viele Eltern waren glücklich über die Möglichkeit zur Verschickung. Bei Krankheiten wie Asthma galt eine Kur als Mittel der Wahl, Heilungsversprechen überwogen die Bedenken, sich von den Kindern über Wochen zu trennen. Besuchsverbot und Briefzensur waren an der Tagesordnung. Viele Hilferufe kamen nie an. Oft erfuhren die Eltern erst Jahre später oder nie, was die Kinder mitgemacht hatten.
Die Eltern hatten ihre Kinder Menschen, vor allem Frauen, überlassen, die vom Nationalsozialismus und dessen Erziehungsauffassung geprägt waren. Diese beruhte auf dem „Zurückweisen des ersten Neinsagens (...), dem Erprügeln von Gehorsam, den strengen Sauberkeitsforderungen, dem körperlichen Zwang und dem Diktat der Uhr“. (Zitat Sigrid Chamberlain). Nicht nur in den Kurheimen taten die Schriften der Nationalsozialistin und Ärztin Johanna Haarer ihr Werk: Die Autorin von „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, zuerst 1934 erschienen und bis 1987 vertrieben unter „Die Mutter und ihr erstes Kind“, schrieb mehrere Bücher mit hohen Auflagen, in denen sie die Beziehungsstörung zwischen Mutter und Kind geradezu propagiert und Beschämung als Erziehungsmittel empfiehlt.
Gewalt und Beschämung als Erziehungsmittel in schlimmer Tradition
Auf Isolieren, Ausstoßen und Beschämung beruhte vielfach die „Erziehung“ in den Kinderkurheimen. Auch das Buch „Mutter und Kind“ einer weiteren NS-Ärztin, Hannah Uflacker, nahm Einfluss auf die Erziehungs-„Ideale“ der Nachkriegszeit. Insofern, und
dies ist auch Teil der Wahrheit, waren etliche der „Erziehungsmethoden“, die in den Heimen angewandt wurden, in der Gesellschaft dieser Zeit allgemein verbreitet. Auch die Kirchen haben einen Anteil am Elend der Verschickungskinder. Viele der „Tanten“, wie die Betreuerinnen genannt werden wollten, waren Diakonissen. Die Diakonie in Niedersachsen hat jetzt als erster Verband in Deutschland eine wissenschaftliche Dokumentation angestoßen und es gab erste Worte der Entschuldigung.
Im Buch „Heimweh“ berichtet eine Reneé Grausamkeiten aus einem Heim in Murnau, Träger war die katholische Jugendfürsorge Augsburg. Eine Heimortliste (https://verschickungsheime.de) für Rheinland-Pfalz enthält zahlreiche katholische Träger.
Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder.
Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Psychosozial Verlag,
303 Seiten, 29,90 Euro;
Anja Röhl: Heimweh – Verschickungskinder erzählen,
Psychosozial-Verlag, 228 Seiten, 24,90 Euro