Ein Interview über Paulus und seinen Tod

„Der Begriff des Märtyrers passt eigentlich nicht“

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Mein Sohn, ich werde geopfert und die Zeit des Aufbruchs ist nahe. So heißt es in der Lesung aus dem Timotheusbrief. Und es stellt sich die Frage: Was weiß man eigentlich über den Tod des Völkerapostels? Nicht ganz viel, sagt der Exeget Friedrich Wilhelm Horn.

Foto: wikimedia
Rembrandt van Rijn: Paulus im Gefängnis, 1627 (Ausschnitt)

Professor Horn, der Texteinstieg klingt so, als würde Paulus hier seinen Abschiedsbrief schreiben. 

Tatsächlich hat der Zweite Timotheusbrief den Charakter eines Testaments, das Paulus im Angesicht seines nahen Todes schreibt. Allerdings gilt der Brief für die Mehrheit in der Forschung als ein pseudepigrapher Brief. Das heißt: Hier schreibt jemand im Namen des Paulus, vielleicht ein Paulusschüler oder jemand aus dem Umkreis des Paulus, vielleicht aber auch jemand, der sich den Namen des Paulus zunutze macht, um so Autorität zu gewinnen. 

In der Lesung heißt es auch: „Bei meiner ersten Verteidigung ist niemand für mich eingetreten.“ Hatte Paulus häufiger Rechtsstreitigkeiten?

Ja, die Apostelgeschichte beschreibt etliche Konflikte des Paulus auf seinen Missionsreisen, vor allem mit der jüdischen Synagoge in den Städten. Da ging es in der Regel um Religionsstreitigkeiten, Kritik an der Tora, Gotteslästerung. Dafür werden auch Strafen genannt, etwa Geißelhiebe oder sogar eine Steinigung.

Aber reine Religionsstreitigkeiten dürften den römischen Besatzern doch egal gewesen sein.

Gegenüber den römischen Behörden wurde Paulus von der jüdischen Synagoge eher der Unruhestiftung beschuldigt. Da waren die Römer sehr empfindlich – gegenüber allem, was nach Aufstand oder Infragestellung der Staatsmacht klang. Letztlich war das ja auch der Anklagepunkt gegenüber Jesus: die öffentliche Ordnung und den Kaiser mit einem messianischen Anspruch infrage gestellt zu haben.

Was weiß man über den letzten Prozess, den Paulus durchzustehen hatte, also von dem, auf den die Lesung anspielt?

Da weiß man einiges, denn er wird in Apostelgeschichte 21-28 recht ausführlich geschildert. Ausgangspunkt war der letzte Jerusalembesuch des Paulus, wo er eine Kollekte übergeben wollte. Dort soll Paulus einen Heidenchristen mit in den nur für Juden zugänglichen Bereich in den Tempel genommen haben. Ein Sakraldelikt, und die römischen Truppen mussten ihn zunächst vor einem Lynchmord beschützen. Als es dann nach einem Verhör zu einem nächtlichen Anschlag auf Paulus kam, wurde er nach Caesarea überführt. Dort muss es vor den Statthaltern Felix und Festus zu einem ersten Prozess und einer Verurteilung gekommen sein. Denn nur dann konnte Paulus als zweite Instanz an den Kaiser appellieren.

Dieses Recht hatte er, weil er – im Unterschied zu Jesus – römischer Bürger war.

Genau, als römischer Bürger durfte er den Kaiser anrufen, wenn er mit einem Urteil nicht einverstanden war. Deshalb wurde er, so erzählt es Apostelgeschichte 27-28, nach Rom überführt. 

Und was geschah dort?

Das weiß man eben nicht genau. Paulus war wohl zwei Jahre in einer Art Hausarrest als Gefangener in seiner Wohnung. Er konnte dort Briefe schreiben und Besucher empfangen. Aber was am Ende der zwei Jahre geschah, darüber erzählt das Neue Testament nichts. Gab es einen Prozess vor dem Kaiser? Gab es einen Freispruch? Eine Verurteilung? Wir wissen es nicht.

Aber es gibt doch zahlreiche Legenden bis hin zum Paulusgrab.
 
Weil man in der frühchristlichen Literatur versucht hat, diese Wissenslücke zu schließen. Möglicherweise mit Informationen aus dem Umkreis des Paulus oder aus der römischen Gemeinde, aber auch spekulativ. 

Welche Varianten und Quellen gibt es da?

Zum einen die apokryphen Apostelakten aus dem 2. Jahrhundert. Sie sagen, dass der Appellationsprozess vor dem römischen Kaiser mit einer Verurteilung zum Tod endete; Paulus sei mit dem Schwert enthauptet worden. Der Geschichtsschreiber Eusebius von Caesarea erzählt dagegen davon, dass Paulus nach einem Freispruch erneut auf Mission in den Osten, nach Ephesus und Kreta, reiste und später nach Rom zurückkehrte. Und nach spanischer Tradition missionierte er nach einem Freispruch in Spanien; dafür gibt es aber keine frühen Quellen.

Was halten Sie für das Wahrscheinlichste?

Nach meiner Sicht ist Paulus in Rom hingerichtet worden. Was allerdings genau der Anklagepunkt gewesen sein soll, bleibt undurchsichtig.

Kommen wir noch einmal zurück zum Lesungstext. Darin wird Paulus ja ausführlich gelobt: „Treue gehalten“, der „Kranz der Gerechtigkeit liegt bereit“. Geht es in dem Text auch um eine theologische Würdigung des Paulus?
 
Auf jeden Fall ist der Text eine Würdigung. Denn im antiken Denken ist wichtig, dass man seinen Idealen, seinem Glauben bis in den Tod hinein treu bleibt. Gerade in den letzten Stunden erweist sich etwas vom Charakter eines Menschen. 

War die Bedeutung des Paulus zur Abfassungszeit des Briefes denn umstritten?

Ja, Paulus war von Anfang an eine Reizfigur. In allen Gemeinden treten Gegner auf, die gegen ihn und gegen seine Verkündigung opponieren. Paulus sagt zum Beispiel im Römerbrief, dass er im Osten keinen Raum mehr habe, und er befürchtet, dass man dort nach seinem Leben trachtet. Und natürlich gab es auch die Auseinandersetzungen mit Petrus und Jakobus. Man hat schon zu Lebzeiten des Paulus gesagt: Sein Auftreten ist schwach, aber seine Briefe sind stark. Und seine Wertschätzung stieg dadurch stark, dass seine Briefe seit dem 3./4. Jahrhundert Teil des biblischen Kanons waren.

Macht es für Sie eigentlich einen Unterschied, ob Paulus für seinen Glauben geopfert wurde oder sonst wie gestorben ist?

Nein, tatsächlich nicht. Unser wesentlicher Bezug zu Paulus läuft weniger über seine Person oder Persönlichkeit, von der wir nur umrisshaft etwas wissen, als über seine Theologie. Der Begriff des Märtyrers passt im Zusammenhang mit Paulus eigentlich nicht.

Das Gespräch führte Susanne Haverkamp

Foto: privat

Friedrich Wilhelm Horn war von 1996 bis zu seiner Emeritierung 2019
Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät
der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.