Die Bibel, abgeschrieben
Menschen wählen ein Kapitel der Bibel und schreiben es in ihrer Handschrift ab: Im schweizerischen St. Gallen wurde dieses Projekt im März gestartet, um in der Zeit der Corona-Krise miteinander verbunden zu bleiben. Es zog weite Kreise.
Die Initiative war zunächst nur für Leute aus und um die schweizerische Stadt St. Gallen gedacht. Doch als E-Mail-Anfragen aus der übrigen Schweiz und dem Ausland eintrafen, kamen Pfarrer Uwe Habenicht und sein Team schnell von der geografischen Eingrenzung ab. Die Idee, sich in einer Zeit von Isolation, Untätigkeit und Ungewissheit einer vermeintlich so simplen Tätigkeit wie dem Abschreiben von Bibeltexten zu widmen, fand auf Anhieb Anklang.
Teilnehmer aus Bern und Zürich, aus Deutschland, Österreich, Liechtenstein und sogar den USA machten mit. Einzige Bedingung war, „dass man von Hand schreiben kann“, sagt Habenicht, Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Straubenzell im Westen St. Gallens und Initiator des Projekts, in dessen Team auch Mitarbeiter der katholischen St. Galler Citykirche sind.
Während es heutzutage im effizienzgetriebenen Arbeitsalltag mit Copy-Paste, Scannen oder auch Audio-Transkriptionsprogrammen darum geht, Abschreiben von Hand möglichst zu vermeiden, stand beim Corona-Bibel-Projekt das Gegenteil im Vordergrund: Es ging „um Verlangsamung, Körperlichkeit und darum, in der neuen, außergewöhnlichen Situation zu einem neuen Rhythmus zu finden“, so Habenicht.
Für ihn war es wichtig, dass das Projekt nicht nur auf der individuellen Ebene blieb. Die Schreibenden konnten sich „als Teil von etwas wahrnehmen, was außerhalb ihrer selbst liegt“, erläutert er seine Idee. Denn zum einen sind die einzelnen Kapitel Beiträge zu einem größeren Ganzen.
Die Leute gingen auf eine Entdeckungstour
Zum anderen verbinden sich die Schreibenden mit Vergangenem und Zukünftigem: Der Bibeltext stammt aus der Vergangenheit. In der Zukunft liegt die feierliche Übergabe des fertig gebundenen Werks an die St. Galler Stiftsbibliothek, Teil jenes berühmten Klosters, in dem Mönche im Mittelalter ihre Abschriften der Bibel und anderer Texte herstellten.
„Lustigerweise hatte ich zunächst die Vorstellung, dass das Abschreiben in den Klöstern im Mittelalter eine einsame Tätigkeit war“, so Habenicht. Doch als er sich näher damit befasste, sei ihm klargeworden, dass man im Skriptorium oftmals sehr gemeinschaftlich arbeitete. „Somit hat sich auch schon dort die Einzel- mit einer Gemeinschaftsleistung verbunden.“
Bereits als sich der Lockdown abzeichnete, stellte Habenicht in Windeseile Projektteam und Website zusammen, Erklärvideos inklusive. Gut fünf Wochen später war das Projekt auf gutem Weg. Dem Initiator war klar, dass die verschiedenen Teile der Bibel nicht in gleichem Maße bekannt und beliebt sind. „Psalm 23, das Hohelied der Liebe, die Schöpfungs- und die Weihnachtsgeschichte waren wahnsinnig schnell weg“, berichtet Habenicht.
Bei den wenig bekannten biblischen Büchern wie Esra und Nehemia hätten die Schreiber sich erst kundig machen müssen, worum es darin geht. Das hat aber offenbar niemanden abgeschreckt. Die Leute gingen „auf Entdeckungstour“, sagt Habenicht. Plötzlich hätten sie wahrgenommen, was da steht. Viele „spannende Wahrnehmungen und Fragen“ seien aufgebrochen.
Corona-Bibel wird digitalisiert
Als die ersten Beiträge eintrafen – teils mit eigenen Illustrationen und Kommentaren, im eigenen Dialekt oder in einer Fremdsprache – wurde Habenicht klar, dass das Projekt nicht nur als gedrucktes Exemplar öffentlich aufgelegt werden sollte, sondern dass auch die vollständige Digitalisierung wichtig wäre. Inzwischen steht fest, dass die Corona-Bibel tatsächlich digitalisiert wird. „Wir hoffen, dass bis Herbst die digitale Ausgabe vorliegt“, sagt Habenicht.
Derzeit stehen die Restarbeiten an. Alle 1189 Kapitel der Bibel wurden vergeben, die allermeisten Blätter sind eingereicht. Da man mit ein bis zwei Prozent Ausfallquote rechnet, werden in der kommenden Woche zwei Workshops stattfinden, bei denen Freiwillige die wenigen noch fehlenden Kapitel abschreiben wollen.
Wenige Wochen nach dem Start fand das Projekt übrigens schon erste Nachahmer. Novizen der Abtei Saint-Maurice in der Westschweiz lasen einen Medienbericht über die Initiative. Sie nahmen umgehend Kontakt mit Pfarrer Habenicht auf und holten auch das Einverständnis ihres Abtes ein, eine französische Version des Projekts anzugehen.
Praktisch zeitgleich erfuhr in Paris Valerie Duval-Poujol vom St. Galler Bibelabenteuer. Die Theologin von der Französischen Bibelvereinigung ABF sorgte dafür, das Projekt der Abtei auf der ABF-Website zu bewerben. Die gegenwärtig entstehende „La Bible manuscrite“ (Die handschriftliche Bibel) wird am Ende in ein Werk gefasst, das in Kirchen und Pfarreien zirkulieren soll.
Ueli Abt