Gefragte Frauen: Henriette Crüwell

Die Frau, die Abschied kennt

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Henriette Crüwell war zuerst katholisch, dann alt-katholisch und ist jetzt evangelisch. Sie hat nicht geglaubt, dass sie mit ihrer Vita zur Regionalbischöfin gewählt werden könnte, doch seit September ist sie Pröpstin für Rheinhessen und das Nassauer Land. Von Ruth Lehnen


Woran erkennt man, dass Gott da ist? Daran, dass die Menschen strahlen und sich freuen“, sagt Pröpstin Henriette Crüwell.


Die erste Frage an Henriette Crüwell muss lauten, ob sie gut Abschied nehmen kann. „Ich kann nicht gut Abschied nehmen, aber ich mache das mein Leben lang“, sagt sie. Gerade wieder: Sie war so glücklich als Pfarrerin in Offenbach, aber dann kam die neue Aufgabe, und sie musste umziehen und neu anfangen. Seit August ist sie Pröpstin für Rheinhessen und das Nassauer Land. Das heißt, sie ist Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Regionalbischöfin.
Ob sich das die 14-jährige Henriette Franke hat träumen lassen, als sie, damals frisch gefirmte Katholikin, auf dem Petersplatz in Rom stand und junge fröhliche Nonnen sah, die sie zutiefst beeindruckten? So sehr, dass sie selbst gern Nonne werden wollte? Die Ordensfrauen gaben Henriette ein Bildchen mit, auf dem Abraham abgebildet war. Darauf stand etwas, das später auch in ihrem Leben wichtig werden sollte: „Geh in das Land, das ich Dir zeigen werde!“. Das sagte Gott zu Abraham, und das sage er auch heute noch, ist die Pröpstin überzeugt. Glaube ist nichts, was einmal gefunden werden kann und dann gleich bleibt. Der Weg mit Gott kennt Umwege, Schleifen und Auf und Abs. 

Als Pröpstin macht sie anderen Menschen Mut zum Neuanfang

Gerade erlebt Henriette Crüwell, 51 Jahre alte Ehefrau und Mutter dreier erwachsener Kinder, einen ziemlichen Aufschwung. Das Interesse am Lebensweg der neuen Pröpstin war groß, und sie zeigt sich selbst immer noch überrascht, dass sie „mit diesem Lebenslauf“ tatsächlich gewählt wurde. Denn Crüwell war nicht nur früher Katholikin, sondern sie war auch eine Zeitlang Mitglied der alt-katholischen Kirche, wurde hier zur Pfarrerin geweiht. Immer wieder gab es Neuanfänge in ihrem Leben. 
Als Pröpstin hat sie jetzt auch anderen Menschen Mut zum Neuanfang zu machen. Der Umbauprozess „EKHN 2030“ will zwar zum Aufbruch blasen, aber das Thema Abbruch bleibt: weniger Mitglieder, weniger Kirchengebäude, weniger von allem. Crüwell vergleicht ihre evangelische Kirche mit einem Haus. Es gehe jetzt nicht darum, einige Zimmer weniger zu nutzen. Es gehe auch nicht darum, umzuziehen in ein kleineres Haus. Sondern die Parole heiße: „Wir müssen campen gehen!“ 
Sie ist auch dafür gewählt, diese Umbrüche „allen, die Kirche sind“, zu vermitteln. Da kann sie ihre vielen Abschiedserfahrungen gut gebrauchen. Der „Aufbruch im Abschied“ erfordert Trauerarbeit in den rund 200 Gemeinden mit etwa 250 000 Evangelischen. Crüwell will diejenigen, die sich bisher mit Herzblut in den Gemeinden engagiert haben, nicht verlieren. 
Sie erläutert, dass die Christen immer „eine kleine angefochtene Minderheit“ gewesen seien. Die Zeitspanne, „in der wir den Eindruck hatten, wir sind die Mehrheit“, sei definitiv vorbei. Der Himmel sei leer geworden. Die Christen, meint sie, könnten nur überzeugen, indem sie Freude ausstrahlen. Denn: „Woran erkennt man, dass Gott da ist? Daran, dass die Menschen strahlen und sich freuen.“ 
Henriette Crüwell nimmt man das ab, denn sie hat selbst diese fröhliche, freundliche Ausstrahlung. „Sie stehen da vorne und lächeln“, sagen die Leute zu ihr, und so ist es. Sie ist gern in ihrer Rolle, sie liebt es, Pfarrerin zu sein, und „Gottesdienst ist für sie das Schönste überhaupt“. Das zeigt sich auch in den sozialen Medien, auf den meisten Bildern strahlt sie, ob sie gerade mit Konfirmanden feiert, die ihren Konfirmationsspruch auf Stühle gemalt haben, ob sie Tauben in den Himmel fliegen lässt, einen neuen Outdoor-Altar einweiht oder mit den beiden Familienhunden im Arm in die Kamera lächelt. Henriette Crüwell hat aber auch eine andere Seite, in der sich ihr Glauben bewährt hat. Einmal hatte sie einen Burn-out, dazu sagt sie nur: „Pfarrerin sein – es ist nie gut genug.“

Vom Talar mit Beffchen und einem besonderen Kreuz

Zur in der evangelischen Kirche derzeit hart diskutierten Friedensethik äußert sie sich so: Krieg dürfe nicht selbstverständlich werden, „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein“. Andererseits erfordere der Angriffskrieg Putins Solidarität mit der Ukraine. Wie die Ratsvorsitzende Annette Kurschus will sie, dass die Kirchen den Frieden mit vorbereiten. Träume seien erlaubt: „Warum gibt es nicht einen großen Pilgerzug nach Kiew aus vielen Ländern?“  – Sie ist gerade erst im Amt und äußert sich diplomatisch. Es macht einen Unterschied, ob sie als Pfarrerin der Friedenskirche in Offenbach spricht oder als Pröpstin. Als Pröpstin bleibt sie Pfarrerin, ist nicht „auf ewig gewählt“, sondern kann nach sechs Jahren wiedergewählt werden. Sie will ihr Amt so verstehen: Nicht als „Aufseherin, sondern als Draufseherin“, die dafür sorgt, dass alle Beteiligten gesehen werden: „Was brauchen sie von Kirche?“ Um viele kennenzulernen und ihnen gut zuzuhören, ist sie derzeit oft mit dem Auto unterwegs.
Ihr Outfit hat sie ein wenig angepasst. Sie trägt gern Kleider, jetzt in dunkleren Farben, und zum ersten Mal hat sie sich vor kurzem einen Talar mit Beffchen angeschafft. So heißt die weiße Schleife am Hals, ursprünglich ein Bartschutz für die Männer der Kirche. Erkennbar sein als Repräsentantin der Kirche sei wichtig, meint sie. Das auffällige Kreuz, das sie jeden Tag trägt, hat eine besondere Geschichte. Als sie es sah bei einer Juwelierin in Bonn, wollte sie es unbedingt haben. Das Familienbudget gab das damals nicht her, deshalb trat sie mit der Goldschmiedin in Verhandlung und stotterte das Kreuz in mehreren Raten ab. Es habe so eine Tiefe, beschreibt Henriette Crüwell ihr Kreuz und Erkennungszeichen. Es habe dieses Funkeln in der Mitte und aus der Mitte.

Manchmal vermisst sie den großen Tanz der Liturgie

Als junge Frau hat sie sich 1987 in dieser Kirchenzeitung in Leserinnenbriefen für das Priestertum der Frau eingesetzt. Gäbe es bei den Katholiken Priesterinnen, wäre sie dann noch Katholikin? Nein. Sie hat ein anderes Amtsverständnis entwickelt und sei ganz „in der Kirche des Wortes“ angekommen. Der evangelischen Kirche schreibt sie „große nüchterne Würde“ zu. Manchmal vermisst sie den großen Tanz der katholischen Liturgie. Durch ihre Erfahrungen in der katholischen, alt-katholischen und evangelischen Kirche sei sie „konfessionell mehrsprachig“, sagt Henriette Crüwell. Ihre „Irrungen und Wirrungen“, wie sie ihren Weg scherzhaft beschreibt, sieht sie keineswegs negativ. All ihre Erfahrungen kämen ihr jetzt zugute. „Geh in das Land, das ich Dir zeigen werde!“, das hat auch für sie gegolten. Vorerst ist sie angekommen: in Rheinhessen und im Nassauer Land.

Von Ruth Lehnen

 

GEFRAGT... GESAGT

„Der Glaube gibt mir das Lächeln“
In der Rubrik „Gefragt ... gesagt“ geben die „gefragten Frauen“ möglichst spontan Antworten.

Durch wen und wie sind Sie zum Glauben gekommen? 
Henriette Crüwell: Durch eine Gruppe junger Nonnen auf dem Petersplatz in Rom. Nach meiner Firmung war ich mit meinem Vater nach Rom gereist. Diese Nonnen strahlten etwas aus, das ich unbedingt auch haben wollte. Ich war dann ja lange in einem Internat, das von Nonnen geführt wurde, und wollte dort eintreten. Aber dann kam mein Mann. 

Was gibt Ihnen Ihr Glaube?
Er gibt mir das Lächeln. Er gibt mir die tiefste unerschütterliche Zuversicht, dass es immer ein Morgen gibt. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass einem die Angst den Boden unter den Füßen wegziehen kann. Und gerade da habe ich erlebt, im tiefsten Loch: Da ist jemand, der mich hält.

Sie sind ja zweimal aus Kirchen ausgetreten? 
Ich bin woanders hingegangen. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne Kirche zu sein. Und das meine ich ohne konfessionelle Verengung. 

Welche Veränderung wollen Sie als Frau in der Kirche noch erleben?
Ich träume von einer Kirche, die fröhlich ist, ihre bunte Vielfalt feiert und lebt und in der nach einem Wort der Theologin Kerstin Söderblom alle anders anders sein dürfen. 

Was war Ihr schönstes Erlebnis im Glauben?
Da gibt es so viele. Das letzte schönste Erlebnis war der Einführungsgottesdienst in mein Amt in der Oppenheimer Katharinenkirche, in dem so viele hinter mir standen und auf die Frage antworteten, ob sie bereit sind, mich zu unterstützen, und alle sagten: „Ja, mit Gottes Hilfe.“

Ihre liebste Bibelstelle?
Jesaja 40,1: „Tröstet, tröstet mein Volk“, und Johannes 14,1: „Habt keine Angst, glaubt an Gott und glaubt an mich.“ – „Fürchtet euch nicht“, das ist ja das ganze Evangelium.

Ihr Rat an Frauen auf der Suche? 
Mit Elizabeth Barrett Browning: „Die Erde ist randvoll mit Himmel, und in jedem gewöhnlichen Dornenbusch brennt Gott, aber nur jene, die sehen können, ziehen ihre Schuhe aus; die anderen sitzen darum herum und
pflücken Brombeeren.“
 

ZUR PERSON

Henriette Crüwell, Pröpstin Rheinhessen und Nassauer Land

Henriette Crüwell wurde 1971 in Offenbach geboren. Sie studierte zunächst Rechtswissenschaften und legte das 2. Juristische Staatsexamen ab. Danach entschloss sie sich zum Studium der Philosophie und katholischen Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Sie wurde Mitglied der alt-katholischen Kirche, wo sie 2006 zur Pfarrerin geweiht wurde. Vikariat und erste Amtsjahre verbrachte sie in der alt-katholischen Kirche in Bonn. Danach wechselte sie als Gemeindepfarrerin im Probedienst in die Evangelische Kirche im Rheinland. Ab 2014 arbeitete Crüwell in Hessen-Nassau als Pfarrerin an der jugend-kultur-kirche sankt peter in Frankfurt, seit 2016 war sie Pfarrerin der Friedenskirche in Offenbach. Im November 2021 wurde sie zur Pröpstin (Regionalbischöfin) für Rheinhessen und das Nassauer Land gewählt; Dienstsitz ist Mainz. Im September 2022 trat sie ihr neues Amt an, sie ist für rund 250 000 evangelische Christen in mehr als 200 Gemeinden im rheinland-pfälzischen Kirchengebiet der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau (EKHN) zuständig. Die Amtszeit beträgt sechs Jahre, Wiederwahl ist möglich. Henriette Crüwell ist verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.

Evangelische Propstei Rheinhessen und Nassauer Land, Am Gonsenheimer Spieß 1, 55122 Mainz, Telefon 06131/31027; Internet: https://propstei-rheinhessen-nassauerland.ekhn.de/propstei.html

Ruth Lehnen