"Gefragte Frauen": Julia Lienemeyer

Die Frau für den Dom

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Arbeit ohne Ende – das ist normal für eine Dombaumeisterin. Architektin Julia Lienemeyer ist für acht Kirchen in Frankfurt zuständig, darunter den Bartholomäusdom, ein Wahrzeichen ihrer Heimatstadt.


Dombaumeisterin zu sein, bedeutet, jeden Tag dazuzulernen. Julia Lienemeyer mag genau das an ihrer Aufgabe.


Für Julia Lienemeyer sind die Frankfurter Innenstadtkirchen fast wie Menschen, faszinierende Persönlichkeiten mit ungeheuer viel Ausstrahlung. Aber auch vielen Altersbeschwerden. Ständig muss man nach ihnen schauen. Heute steht die  Dombaumeisterin am Dachrand des Bartholomäusdoms, wiegt einen der schweren Ziegel in der Hand und bewundert, was schon fertig ist in „altdeutscher Deckung“: wie die Ziegel sich glänzend in der Sonne und solid einer neben dem anderen das Dach raufziehen, in schräger Reihe. Ein schöner Anblick, es geht voran.  
Mit dem Zeitplan am Frankfurter Dom ist man gerade etwas in Verzug. Was in jahrhundertealter Entwicklung und Arbeit entstanden ist, braucht langen Atem. Und den hat die 52-jährige Dombaumeisterin. Zwar behält sie die Kosten scharf im Blick, besonders wichtig ist ihr aber die Qualität. Manchmal muss etwas länger gearbeitet werden, um das bessere und nachhaltigere Ergebnis zu erzielen. Nach diesem Motto hat sie das Dompfarrhaus renoviert – sie zeigt hinüber über die Straße – und ist für ihre Arbeit ausgezeichnet worden.  

Einen Dom zu erhalten ist Teamwork

Julia Lienemeyer mit Steinmetzin
Julia Lienemeyer mit der Steinmetzin Foto: Ruth Lehnen

Lienemeyer spricht mit Steinmetzin Stefanie Scheb, die am Sandstein bohrt – das macht ein Geräusch fast wie beim Zahnarzt. Die herrlichen Bauverzierungen von Dombaumeister Franz Josef von Denzinger hat der Zahn der Zeit angenagt. Es ist das Wasser, das die größten Schäden am Stein anrichtet. Die Steinmetzin erneuert die hübschen stilisierten Gebilde in Blätterformen, Krabben genannt. Lienemeyer bewundert diese  Handwerkskunst und betont, wie wichtig das Teamwork ist. Um ein Bauwerk von der Größe und Bedeutung des Frankfurter Doms zu erhalten, braucht es die enge Zusammenarbeit aller Beteiligten. Da sind die Planer, die externen Architekten, da sind die Fachleute von der Stadtverwaltung, die Denkmalschützer und Restauratoren, da sind Handwerkerinnen und Handwerker. Und „die Nutzer“, wie sie die Mitglieder der Domgemeinde nennt. Ihre Aufgabe als Dombaumeisterin besteht zu einem großen Teil aus Kommunikation: Sie hört allen Beteiligten gut zu und versucht, unterschiedliche Interessen in Einklang zu bringen. Dabei respektiert sie das Fachwissen anderer und lernt selbst dazu. Am Ende hat sie den Hut auf, muss die Entscheidungen treffen.

"Sie bauten eine Kathedale" – das Buch mochte sie schon als Kind

Die Kirchen-Baustellen sind nichts für Menschen, die sich schnell entmutigen lassen – mal müssen Ziegel aus Spanien importiert werden, weil es den heimischen Steinbruch nicht mehr gibt, mal hat Marderkot alles verschmutzt, mal finden sich unerwartet Mengen an kontaminiertem Dämmmaterial. Die Arbeit einer Dombaumeisterin findet kein Ende. Julia Lienemeyer setzt aufs „Priorisieren“: „Das Wichtigste zuerst.“ Und dann bietet der Dom auch so viel Schönes, Bewundernswertes, das ihre Augen aufleuchten lässt. Zum Beispiel die Fenster von Hans Leistikow, die sich zuerst nicht aufdrängen, aber sie als Tochter eines Grafikers entzücken.  
„Sie bauten eine Kathedrale“: Das war eins ihrer Kinderbücher, sie hat sich die Federzeichnungen von Architekt und Grafiker David Macauley genau angeschaut. Sie besitze das Buch noch heute, erzählt Julia Lienemeyer, die jetzt auf einem Holzstapel im so genannten Domgarten sitzt. Dort wachsen zur Zeit statt Blumen die Baumaterialien in die Höhe. Sie erinnert sich, dass ihre Eltern mit ihr bei jeder Städtereise zuerst in die Kathedralen gingen. Weniger, um zu beten, als um zu schauen, zu lernen und zu bewundern. Niemand hätte damals erwartet, dass Julia Dombaumeisterin in ihrer Heimatstadt werden würde.  

Die erste Dombaumeisterin in ihrer Heimatstadt

Doch genau so ist es gekommen. Nach einer Zeit in Berlin ist Julia Lienemeyer 2009 mit ihrer Familie nach Frankfurt zurückgekehrt, hat bei der Stadt ihr Händchen für alte Bausubstanz bewiesen und war dann die Frau der Wahl, als es um die Nachfolge von Dombaumeister Robert Sommer ging.  
Einen Dombaumeister oder eine Dombaumeisterin zu finden, ist in Frankfurt eine Aufgabe der Stadt, nicht des Bistums Limburg oder der Stadtkirche Frankfurt (siehe unten „Zur Person“). Die Stadt entschied nach Kompetenz, Wissen und Tatkraft und fragte nicht nach der Konfession und nicht nach dem Geschlecht. Ob im 21. Jahrhundert eine Frau eine solche Aufgabe erfüllen kann – diese Frage hat keiner gestellt, und Julia Lienemeyer fände sie auch abwegig. Ebenso abwegig ist es für sie, ihr Bekenntnis zum Thema zu machen. Als Dombaumeisterin ist sie zuständig für fünf evangelische und drei katholische Innenstadtkirchen, darunter den Dom. Sie bewundert den Bau, hält ihn als Wahrzeichen der Stadt für wichtig und tut alles dafür, dass er für nachkommende Generationen erhalten bleibt.

Raum für Stille in der Stadt

Die Architektin hat auch ein Gefühl für den „Andersraum“, den die Kirchen bieten – Raum für Gebet und Gottesdienst, Raum für die Stille in der Stadt. Sie beschreibt diese Erfahrung so: „Es ist einzigartig, dass die Kirchen so große Räume besetzen in den Städten. Man geht rein, es fällt die Tür zu und dann ist es still. Man sollte da respektvoll sein – ich bin das.“  
Respekt und Offenheit sind für sie wichtig. Sie interessiert sich auch für alles, was ihr im Innenraum der Kirchen begegnet – die Rituale, die Paramente, das ewige Licht. Glaube, das ist für sie viel mehr als das, was in das Raster der Konfessionen passt. Neuen Erfahrungen verschließt sie sich nicht. Gern nimmt sie als Gast teil an den Gottesdiensten wie dem Karlsamt. Und sie spürt die Liebe der Menschen zu ihren Kirchen, sei es, dass sie diese als Fixpunkte für „Heimat“ sehen, sei es, dass sie ihre Schönheit bewundern, sei es, dass sie sie als religiöse Orte schätzen.  

Eine Dombauhütte gibt es in Frankfurt nicht 

Dachdecker Marcel Schilling
Dachdecker Marcel Schilling auf dem Domdach Foto Ruth Lehnen

Von hier unten im Domgarten kann man gut die Stelle sehen, an der am 10. Februar 2020 ein Kran auf das Dach von St. Bartholomäus gefallen ist. Damals wurde niemand verletzt, das war die gute Nachricht. Die schlechte: Das Dach war eben fertig restauriert, eine ungeheure, sehr steile Fläche. Mindestens zwei Jahre werde die Reparatur noch brauchen, meint Julia Lienemeyer. Neue Gerüste müssen her – ein Problem zusätzlich zum eigentlichen Schaden.  
Ihre Arbeit unterscheidet sich von der anderer Dombaumeister, denn sie hat keine Dombauhütte hinter sich – festangestellte Handwerker, die sich um den Erhalt kümmern, gibt es in Frankfurt nicht. Für die Zukunft wünscht sie sich ein „Dombuch“, das alle Akten zusammenführt – was ist gemacht worden, wann ist es gemacht worden, von wem ist es gemacht worden? So soll das Wissen besser weitergetragen werden.  
Julia Lienemeyer wird es nie langweilig mit den acht Kirchen, für die sie zuständig ist. Die Faszination wächst noch: „Man versteht die Gebäude immer besser und besser.“ Dombaumeisterin zu sein ist eine Aufgabe für die Dauer.

Von Ruth Lehnen

 

„Die Macht der Rituale ist beeindruckend“

In der Rubrik „Gefragt ... gesagt“ geben die „gefragten Frauen“ möglichst spontan Antworten.

Woran glauben Sie?

Julia Lienemeyer: An den Menschen, an die Gemeinschaft. Ich finde, wenn man etwas wirklich unbedingt möchte, ein Ziel so gut wie möglich umsetzen will, muss man daran glauben. Man muss im guten Glauben handeln, zum Beispiel um den Kindern das Bestmögliche mit auf den Weg zu geben.

Welches war für Sie das schönste Erlebnis im Zusammenhang mit der christlichen Religion?

Das Karlsamt in Frankfurt, das jedes Jahr in Frankfurt gefeiert wird. Die Macht der Rituale ist für mich beeindruckend: wie die Gesänge den Raum erfüllen und der Klang der Orgel.
 
Ihre liebste Bibelstelle?

Vielleicht: „Der Glaube kann Berge versetzen.“  
Ich habe das nachgeschaut: „Wenn euer Glaube auch nur so groß ist wie ein Senfkorn, dann werdet ihr zu diesem Berg sagen: Rück von hier  
nach dort!, und er wird wegrücken. Nichts wird euch unmöglich sein.“ (Matthäus 17,20)  
 
Ihr Rat an Frauen auf der Suche?

Möglichst offen sein, neugierig, keine Angst zu haben, Neues auszuprobieren, um die Ecke zu gucken und sich selbst zu vertrauen.

 

Zur Person: Julia Lienemeyer, Dombaumeisterin in Frankfurt am Main

Julia Lienemeyer wurde 1968 in Frankfurt im Nordend geboren, sie ist verheiratet und hat zwei Töchter.  
Die Architektin hat über Stadtentwicklung und Architektur von Czernowitz, heute Ukraine, promoviert.  
Nach einer Zeit in Berlin ist sie seit 2009 bei der Stadt Frankfurt im Amt für Bau und Immobilien tätig. Auszeichnungen erhielt sie beispielsweise für die Instandsetzung des Bornheimer Uhrtürmchens und die Sanierung des Dompfarrhauses. Den Titel „Dombaumeisterin“ trägt sie seit Januar 2021, die Stelle hat sie seit 2019 inne.  
Als Dombaumeisterin ist sie für die acht Dotationskirchen der Stadt Frankfurt zuständig. Fünf davon sind evangelisch: die Alte Nikolaikirche, die Dreikönigskirche in Sachsenhausen, die St. Peterskirche, die Heiliggeistkirche im Dominikanerkloster und die St. Katharinenkirche. Drei sind katholisch: die St. Leonhardskirche, die Liebfrauenkirche und der Frankfurter Dom St. Bartholomäus.  
1830 hatte die Stadt, die von den Enteigungen zur napoleonischen Zeit sehr profitiert hatte, den Dotationsvertrag abgeschlossen und sich verpflichtet, sich um den Erhalt der Innenstadtkirchen zu kümmern.  
Wenn sie gefragt wird, welche Kathedrale in Deutschland ihr am besten gefällt, entscheidet sie sich für den Frankfurter Dom. „Mir gefällt das Gebäude in seiner Proportion und Erscheinung“, sagt sie. „Der rote Sandstein aus der Region gibt ihm etwas Typisches für den Frankfurter Raum.“

 

Ruth Lehnen