Adveniat-Referent zur Präsidentschaftswahl in Brasilien

"Die Gesellschaft ist hellwach"

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An diesem Sonntag wird in Brasilien ein neuer Präsident gewählt. Norbert Bolte, Brasilien-Referent des Hilfswerks Adveniat, erklärt, warum viele Brasilianer aus ihrem Glauben heraus gegen Amtsinhaber Bolsonaro demonstrieren und warum die Wahl für die ganze Welt so wichtig ist.

Foto: imago/Zuma Wire
Zusammen auf die Straße: Studenten, Arbeiter und Sozialverbände organisierten Ende August in Rio de Janeiro Proteste gegen die Regierung von Jair Bolsonaro. Foto: imago/ZUMA Wire


Brasilien wählt an diesem Sonntag einen neuen Präsidenten. Was bedeutet die Wahl für das Land?
Für Brasilien ist es eine Richtungswahl. Entweder das Land entwickelt sich weiter in Richtung einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft oder es findet den Weg zurück in eine demokratische Spur und zu einem gesellschaftlichen Konzept, in dem auch Benachteiligte ihren Platz haben und Rücksicht auf die Interessen der Natur genommen wird. 

Was bedeutet die Wahl für die Welt?
Vor der Präsidentschaft Bolsonaros war Brasilien Teil einer internationalen Bewegung, die den südlichen Ländern der Welt eine Stimme gegeben hat. Das ist vorbei. In den letzten Jahren ist Brasilien international zur Nullnummer geworden. Die jetzige Regierung hat den Schulterschluss mit Schergen wie Donald Trump und Wladimir Putin gesucht.

Wie zeigt sich die Spaltung der Gesellschaft?
Bolsonaros rechtsextreme Politik unterscheidet nur zwischen Gut und Böse, oben und unten. Die sozial Schwachen fallen durchs Raster. In den vergangenen vier Jahren wurde keine Rücksicht auf Indigene, die afro-brasilianische Bevölkerung oder alleinerziehende Frauen genommen. Der Waffenverkauf wurde liberalisiert, was zu noch mehr Gewalt führte. Es gab eine Militarisierung an vielen Schulen. Diese Radikalisierung macht nicht einmal vor Familien Halt. Menschen, die zeitlebens gut miteinander ausgekommen sind, sind zu Feinden geworden.

Was würden weitere vier Jahre unter Bolsonaro für das Land bedeuten?
Die Politik der vergangenen Jahre hat die Armen ärmer und die Reichen reicher gemacht – mit dem Erfolg, dass der Hunger nach Brasilien zurückgekehrt ist. Adveniat muss erstmals in seiner Geschichte humanitäre Hilfe leisten und verteilt Lebensmittelpakete. Bleibt Bolsonaro Präsident, wird sich die Lage verschlimmern.

Was droht Brasilien noch?
Bolsonaro wird versuchen, die politische Struktur des Landes zu zerstören. Er wettert ständig gegen den Obersten Gerichtshof und das Wahlsystem. Seine Regierungsmitglieder und er zweifeln eine mögliche Wahlniederlage schon jetzt an und drohen mit einem Militärputsch.

Wie ist die Stimmung im Land?
Die Brasilianerinnen und Brasilianer sind sehr angespannt. Sie erleben einen gewalttätigen Wahlkampf, den es in dieser Weise noch nicht gab: Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, die sich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen, werden als Kommunisten verunglimpft – Mitglieder werden so sehr bedroht, dass sie gezwungen sind, ins Ausland zu gehen.

Bolsonaro oder Lula da Silva – welcher Kandidat hat die besseren Chancen?
Wenn man den Umfragen glauben kann, liegt Lula momentan vor Bolsonaro. Ich vermute, dass er in einem zweiten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wird. 
Auch Lula, der bereits von 2003 bis 2011 Präsident war, ist nicht unumstritten. Gegen ihn gab es Korruptionsvorwürfe.
Lula ist 2018 im Wahlkampf gegen Bolsonaro verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden. Allerdings hat sich herausgestellt, dass es dafür keine juris-
tische Grundlage gab. Die Behörden hatten aus politischen Gründen die Strafverfolgung gegen ihn veranlasst – und somit Bolsonaros Gegenkandidaten aus dem Weg geräumt. 

Was erhoffen die Menschen von Lula?
Lula hat schon als Gewerkschafter gezeigt, dass er moderieren kann. Die Menschen hoffen, dass das Land mit ihm zum Dialog zurückfindet. Und dass er das umsetzen kann, was er schon vor 20 Jahren gemacht hat: den Hunger ausmerzen, den Wohnungsbau vorantreiben, Sozial- und Bildungsprogramme auflegen. 

Ein enorm wichtiges Thema ist der Raubbau im Amazonasgebiet, der unter Bolsonaro dramatisch gestiegen ist. Wissenschaftler sagen, die Klimakrise sei nicht zu stoppen, wenn der Wald zerstört wird. Was kann Lula tun?
Er kann die Kontrollorgane wiederbeleben. Bolsonaro hat die Indigenen- und die Umweltschutzbehörde praktisch ausbluten lassen. Sie haben kein Geld mehr bekommen, konnten keine Kontrolleure mehr schicken oder Umweltsünder sanktionieren. Wenn eine neue Regierung wieder Mittel zur Verfügung stellt, hat sie ein gutes Instrument, dem Raubbau Grenzen zu setzen. 

Wie denken die Brasilianer darüber?
Das Land zieht über riesige Staudämme einen großen Teil seiner Energie aus dem Amazonas. Für viele Menschen in Südbrasilien, in São Paulo oder Rio ist der Regenwald weit weg. Aber inzwischen denken viele um. Wenn die Wolken, die im Amazonas entstehen, nicht mehr den Regen in den Süden bringen, leiden die Menschen dort unter Dürre. In São Paulo gab es zuletzt einen extremen Wassernotstand. Die Menschen spüren immer stärker: Der Amazonas ist die Lunge der Welt – aber auch unsere eigene.

Inwieweit kann Adveniat in diesem Wahlkampf Stellung beziehen?
Adveniat-Partner haben vor Ort die Kandidaten für die Parlamente und für die Gouverneursposten zusammengebracht und Debatten organisiert. Und wir sehen: Viele Menschen setzen sich mittlerweile aus ihrem Glauben heraus für Menschenwürde und eine geschwisterliche Gesellschaft ein. Das zeigt: Es gibt Widerstand in Brasilien. Die Zivilgesellschaft ist hellwach und versucht, die richtige Antwort auf Bolsonaro zu geben.

Interview: Kerstin Ostendorf