Jugendliche kümmern sich um pflegebedürftige Angehörige

Die Last eines Lebens

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Lana Rebhan ist 15 Jahre alt und führt in ihrer Familie den Haushalt fast allein. Ihr Vater ist schwerkrank, ihre Mutter muss arbeiten. Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen in Deutschland geht es wie ihr. Sie kümmern sich um pflegebedürftige Angehörige. Lana Rebhans Geschichte erzählt davon, was das heißt.

Foto: Christoph Brüwer
Jeden Tag stößt jemand aus dieser Familie an Grenzen: Lana Rebhan mit ihrem schwerkranken Vater Jürgen und ihrer Mutter Katharina. Foto: Christoph Brüwer


Lana Rebhans Mutter steht frühmorgens am Bett ihrer Tochter. „Papa hatte einen Herzinfarkt“, sagt sie. Dass ein Krankenwagen kommt und ihren Vater mitnimmt, kennt Lana Rebhan. „So schlimm das jetzt klingt: Man gewöhnt sich an alles. Und daran auch“, sagt sie. An diesem Morgen im September 2018 weiß sie schon, dass sie sich in den nächsten Wochen und Monaten um den Haushalt kümmern muss – meist allein und immer in Sorge um ihren kranken Vater Jürgen. Er leidet an Zystennieren, und die Krankheit hat massive Auswirkungen auf seinen ganzen Körper.

Wenn Lana Rebhan von der Schule nach Hause kommt, putzt, kocht, wäscht oder bügelt sie. An guten Tagen, wenn ihr Vater Jürgen Rebhan wenig Schmerzen hat, kann er ihr helfen zu kochen oder ans Telefon gehen. An schlechten Tagen geht das nicht. Dann verbringt er die meiste Zeit auf dem Sofa in der Mitte der kleinen Wohnküche und schafft es ohne fremde Hilfe nicht einmal, die wenigen Schritte zur Küchenzeile zu gehen. Sein Zustand kann jederzeit auch so schlecht werden, dass er ins Krankenhaus muss. Dann „kann es sein, dass ich monatelang den ganzen Haushalt quasi alleine führe“, sagt Lana Rebhan. Fast den ganzen Tag über ist dann niemand da, der ihr hilft oder ihr zuhört, wenn sie sich Sorgen macht. Ihre Mutter muss bis abends arbeiten.

Lana Rebhan ist 15 Jahre alt, sie lebt mit ihrer Mutter und ihrem Vater in der bayerischen Kleinstadt Bad Königshofen und ist eine junge Pflegende. Young Carer lautet der englische Fachbegriff für Menschen wie sie. Young Carer – so werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, die sich regelmäßig und intensiv um pflegebedürftige Familienmitglieder kümmern müssen. Nach einer Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege versorgen und pflegen rund fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 10 und 17 Jahren regelmäßig ihre Angehörigen. Hochgerechnet sind das 230 000 junge Menschen in ganz Deutschland – statistisch gesehen also etwa ein Kind in jeder Schulklasse. Ein Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit schätzt die Zahl der jungen Pflegenden in der Altersgruppe zwischen 10 und 19 Jahren in Deutschland sogar auf 479 000. 

Die Aufgaben dieser jungen Menschen können ganz unterschiedlich sein. „Manche müssen bei ihren Eltern auch die Windeln wechseln“, sagt Lana Rebhan. Das bleibt ihr erspart. 

Lana Rebhan sieht aus wie viele Mädchen in ihrem Alter: schmale Figur, schulterlange glatte Haare, Zahnspange. Im Gespräch wirkt sie erst zurückhaltend, erzählt dann aber immer lebhafter von jungen Pflegenden. Ein Thema, das einen großen Teil ihres Alltags einnimmt. Hobbys, sagt sie, habe sie keine; Treffen mit ihren Freundinnen seien schwer planbar und oft kaum möglich – schon gar nicht über Nacht, da sich in dieser Zeit niemand um ihren Vater kümmern würde. 

Foto: Christoph Brüwer
Wenn Lana Rebhan aus der Schule kommt,
wäscht sie die Wäsche. Foto: Christoph Brüwer

Jürgen Rebhans Zystennieren sind eine Erbkrankheit, durch die die Nieren anschwellen und mit Zysten übersät sind. Sie funktionieren nicht mehr richtig und drücken auf andere Organe wie Speiseröhre oder Darm. Seitdem Jürgen Rebhan 2012 mit Nierenversagen ins Krankenhaus gebracht wurde, gehören längere Aufenthalte dort zu seinem Leben. Im vergangenen September lag der 52-Jährige nach einem Herzinfarkt zwei Monate auf der Intensivstation. Bis er sich vollständig erholt hatte, dauerte es bis Mitte März. Dreimal in der Woche muss er zur Dialyse, danach muss er sich ausruhen. An seinem eingefallenen Gesicht und den müden Augen kann man erkennen, wie geschafft er durch die Behandlung ist. Fast ohne Körperspannung sitzt er am Küchentisch.

„Seitdem eine Niere raus ist, ist es wieder okay – erst mal“, sagt Jürgen Rebhan. Er steht auf keiner Spenderliste, er wollte das nicht. Auch eine Spenderniere seiner Frau will Jürgen Rebhan nicht. „Es gibt eine Restwahrscheinlichkeit, dass Lana auch von der Erbkrankheit betroffen sein könnte“, erklärt Katharina Rebhan. In diesem Fall könne sie ihrer Tochter eine ihrer Nieren spenden.

Als ihr Vater 2012 das erste Mal ins Krankenhaus kam, war Lena Rebhan acht Jahre alt. Sie sagt, sie habe noch nicht so viel davon mitbekommen. In ihre jetzige Rolle habe sie dann hineinwachsen müssen. Heute spreche die Familie ganz offen über die Krankheit, sagt Katharina Rebhan. Fast jeden Tag stoße jemand aus der Familie an seine Grenzen. Jeder versuche so viel wie möglich zu tun, um die anderen zu entlasten und ihnen zu helfen, sagt sie. 

Durch die starken Schmerzen habe ihr Vater häufig schlechte Laune und streite sich oft mit ihr, erzählt Lana Rebhan. Sie könne dann kaum einschätzen, ob das an seinen Schmerzen liege oder ob sie etwas falsch gemacht habe. „Natürlich belastet und stresst das einen noch zusätzlich“, sagt die 15-Jährige. Trotzdem stehen Mutter, Vater und Tochter auch in der jetzigen Situation eng zusammen. 

Durch die Krankheit hat sich die Rollenverteilung in der Familie verändert. Lana Rebhan sei erwachsener und verantwortungsbewusster geworden, sagt ihre Mutter. Auch die Rollen der Eltern haben sich gewandelt. Früher arbeiteten beide: Katharina Rebhan als Verkäuferin und Jürgen Rebhan als Lagerist. Seit rund sechs Jahren ist er Frührentner. Als die Krankheit begann, gab auch seine Frau ihren Job auf, um sich um ihre Familie kümmern zu können. Die Rebhans lebten von Hartz IV. Doch Katharina Rebhan merkte, dass dieses Modell auf Dauer schwierig wird: „Dann gehen die einen Probleme weg und die anderen kommen. Es nützt nichts, wenn wir alle drei auf dem Sofa sitzen und dann das Auto kaputtgeht und wir können es nicht bezahlen.“ 

Seit drei Jahren hat sie nun gleich zwei Jobs: Die 39-Jährige arbeitet in einem Immobilienbüro und als Heilpraktikerin für Psychotherapie. Oft kommt sie erst gegen 18 Uhr oder später nach Hause. Lana Rebhan und ihre Mutter kochen dann gemeinsam und haben Zeit, sich zu unterhalten. Anschließend kann die 15-Jährige ihre Hausaufgaben machen. Meistens schaffe sie alles, sagt sie: „Manchmal fällt aber auch etwas hinten runter, was nicht hinten runterfallen sollte. Einfach, weil es zeitlich nicht mehr klappt.“ Ihre Lehrer hätten Verständnis für ihre Situation.

Die achte Klasse des Gymnasiums hat Lana Rebhan wiederholt, weil ihr Vater eine Niere entfernt bekommen hatte. Eine Operation, die sie „komplett aus der Bahn geworfen hat“, sagt sie. Sie konnte sich aus Sorge um ihren Vater nicht mehr konzentrieren. Noch einmal sitzenbleiben dürfe sie nicht, da man in Bayern das Gymnasium verlassen müsse, wenn man dasselbe Schuljahr zweimal nicht schafft, sagt ihre Mutter. Lana Rebhan aber droht genau das. Daher sucht sie nach Ausbildungsstellen in Teilzeit, beispielsweise als Steuerfachangestellte, um gleichzeitig eine Berufsausbildung und den Realschulabschluss zu machen. 

Als sie nach Beratungsstellen sucht, fühlt sich niemand zuständig

Ihr Traum wäre es, später Vorträge über das Thema junge Pflegende zu halten und damit Kindern und Jugendlichen in ihrer oft einsamen und anstrengenden Situation als junge Pflegende zu helfen, sagt Lana Rebhan. Als sie vor einigen Jahren selbst nach Beratungsstellen suchte, um mit jemandem über ihre Situation zu sprechen, habe sich niemand für sie zuständig gefühlt, sagt die 15-Jährige. 

„Young Carer verdienen Respekt von der Gesellschaft“, sagt Lana Rebhan und klingt dabei fast wie eine Politikerin. Ihr Ziel ist es, die Probleme von jungen Pflegenden bekanntzumachen. Sie sei dabei auf einem guten Weg, sagt sie selbst. Im März sprach sie als Sachverständige im Bayerischen Landtag über ihre Situation. 

„Vielen Politikern war das Thema überhaupt nicht bewusst, sie haben sich aber sehr betroffen gezeigt“, erzählt Lana Rebhan. Konkrete Konsequenzen seien aber nicht beschlossen worden, bedauert sie. Trotzdem ist sie optimistisch: „Dass man das einfach mal angesprochen hat, ich denke, das wird schon was ändern.“

Lana Rebhan weiß, wie mühsam Veränderungen sein können. Und sie weiß auch, wie sehr sie manchmal schmerzen. Die Krankheit ihres Vaters ist nicht aufzuhalten. Die Zysten an seinen Nieren könnten jederzeit aufplatzen und er innerlich verbluten. Auch eine Blutvergiftung und Herzinfarkte oder Schlaganfälle aufgrund des zu hohen Blutdrucks sind möglich. 2012 haben Ärzte prognostiziert, dass Jürgen Rebhan vielleicht noch drei Jahre leben werde. „Papa wird irgendwann mal daran sterben“, sagt Lana Rebhan. „Man kann die Krankheit nicht wegmachen.“

Christoph Brüwer