"Alte Mauern - Neues Leben": Kloster Lorsch
Die Rätsel von Kloster Lorsch
Foto: Ruth Lehnen
„Alte Mauern – neues Leben“: Mehr als 800 Jahre lang ein Kloster, heute Weltkulturerbe: Kloster Lorsch ist den Besuch wert und lockt mit gemalten Engeln und echten Blumen. Von Ruth Lehnen
Die Engel scheinen gerade erst gelandet zu sein, es ist noch Wind unter ihren Flügeln. Sie haben so schöne Instrumente, Handorgel, Posaune und Fiedel, und wenn Chöre zu Besuch ins Kloster Lorsch kommen, singen sie gern mit diesem gemalten Engelschor. Dann erschallen echte Stimmen im ersten Stock der Tor- oder Königshalle, die das unbestrittene Zentrum aller Sehenswürdigkeiten von Kloster Lorsch ist. Gästeführerin Annette Moll macht auf ein Detail aufmerksam: Die Engel halten ihr Gesangbuch so, als sollten Betrachter und Besucherinnen mit hineinlugen. Allerliebst, diese gotischen Engel, die hier in der Tor- oder Königshalle die Wände schmücken, und so alt! Von 1400 etwa. Verglichen mit dem Gebäude, das sie schmücken, sind sie aber jugendlich. Denn die Königshalle wurde um 900 gebaut und ist eines der wenigen erhaltenen Gebäude der Karolingerzeit. Wer meint, die schönen Muster, die dem Bau sein charakteristisches Aussehen geben, seien durch Kacheln erzeugt, der irrt: Es handelt sich um Steine unterschiedlicher Farben, die hier vermauert wurden.
Die Tor- oder Königshalle ist eins der großen Rätsel von Lorsch. Wozu diente der Bau im jahrhundertealten Klosterkomplex? Das ist noch immer nicht sicher zu sagen. Hermann Schefers, Leiter der Welterbestätte Kloster Lorsch, hält die These für wahrscheinlich, dass der Bau zum (auch liturgischen) Empfang von Königen diente. Denn Lorsch war über Jahrhunderte ein Königskloster: Wer für den heiligen Nazarius spendete, dessen Reliquien hier mit Stolz verwahrt wurden, tat nicht nicht nur der Kirche ein gutes Werk, sondern auch dem Herrscher.
Besitzungen von den Niederlanden bis in die heutige Schweiz gehörten zum Kloster, das im beschaulichen Lorsch an der hessischen Weinstraße Gäste aus aller Welt anzieht. Manche genießen den von grüner Ruhe beseelten Ort, streifen einmal kurz durchs Kirchenfragment, wie die Ruine der Klosterkirche hier vornehm genannt wird, und lassen es dann bald wieder gut sein. Andere hingegen besehen sich in der Zehntscheune Sarkophage, Reste kostbaren Bauschmucks und die Funde, die vor nicht allzu langer Zeit ein Brunnen auf dem Gelände freigegeben hat. Da kamen in Bruchstücken ganze Figuren hervor: Ein Atzmann – das ist ein Zwitterwesen zwischen einem Pult und einer steinernen Klerikerfigur – und die reich verzierte Skulptur eines Diakons. Beiden fehlt der Kopf, auch das ein Rätsel: Wo sind die Köpfe hin? Wer dann erste Ermüdungserscheinungen an sich bemerkt, kann im „Kräutergarten“ aufatmen. Hinter der Zehntscheune warten Blumen aller Art, viele davon auch nützlich als Arznei. Diese Pracht spielt auf das Lorscher Arzneibuch an. Und damit auf das Erbe des Klosters Lorsch, das heute in aller Welt verteilt ist: Hier wurden wichtige Handschriften verfasst, und das Kloster war Teil der karolingischen Bildungsoffensive. „Karls Copyshop“, nennt das Annette Moll, aber sagt gleich dazu, dass dies nun zu salopp wäre – Karl der Große, der sich selbst wohl sehr schwer tat mit dem Schreiben, wie sein Biograph Einhard berichtet, förderte die Mönche in ihrer Eigenschaft als Kopisten und Buchkünstler, und so wurde in seiner Zeit das Wissen verbreitet. Berühmt wurde der Lorscher Codex, der Lorscher Vergil, das Lorscher Arzneibuch. Kloster Lorsch, das erfahren die Besucher der Welterbestätte, ist nicht nur ein Ort, sondern war mit seiner berühmten Bibliothek ein Hort des Wissens.
Zurück zur Königshalle. Immer noch wird gestritten, ob es sich um ein sakrales Bauwerk gehandelt hat. Franz Lothar von Schönborn, Kurfürst und Erzbischof von Mainz (1695 bis1729) kannte keine Berührungsängste gegenüber dem Baudenkmal. Er ließ im ersten Stock eine Kapelle einrichten mit barocker Bauzier. Somit war die Königshalle spätestens ab diesen Zeitpunkt ein „Kappellche“, wie die Lorscher sagen. Heute finden ökumenische Andachten immer mittwochs am Kirchenfragment statt. Kloster Lorsch, die älteste Welterbestätte Hessens, lebt so für Geschichtsinteressierte, Schönheitssucher und auch für Beter weiter und zieht die Menschen an wie eh und je.
CHRONIK
Kloster Lorsch
Es waren Reliquien des Märtyrerheiligen Nazarius – hier seine Skulptur über der katholischen Kirche
St. Nazarius im Ortskern von Lorsch – die über Jahrhunderte die Menschen nach Kloster Lorsch zogen. Nach dem Anfängen um 764 wurde das Kloster 774 im Beisein Karls des Großen geweiht. Außer dem Aachener Dom ist die Tor- oder Königshalle von Lorsch das wichtigste erhaltene Baudenkmal der Karolingerzeit. Das Kloster bestand bis 1556. Später war das Gelände eine landwirtschaftliche Domäne, dann Residenz eines Oberforstmeisters. Seit 1991 trägt es den Titel UNESCO Weltkulturerbe und lockt heute mit seinen Bauten, Ausstellungen und herrlichem Grün.
https://kloster-lorsch.de
TIPP
Lauresham
„Freilichtlabor Lauresham“: Zum Kloster Lorsch gehört seit 2014 das Modell eines karolingischen Herrenhofs mit Wohnhäusern, Getreidefeldern und Tieren. Es ist kein Freilichtmuseum, sondern hier wird „experimental-archäologische Forschung“ betrieben. Dabei geht es um Arbeitstechniken des frühen Mittelalters. In einem ausgefeilten museums-pädagogischen Programm können alle diesen fast paradiesischen Ort besuchen und erfahren, wie damals geschlafen, gegessen, gewebt und geerntet wurde. Lauresham ist nur an „Offenen Sonntagen“ ohne Führung zugänglich.
https://kloster-lorsch.de/freilichtlabor