Gebetsschule

Die Stille verändert

Image

Zu sich selbst kommen. Und zu Gott. Das geht vielleicht nirgends so gut wie in der Stille. Unser Autor hat es in einem Schweizer Kloster erlebt. Das Schweigen hat vieles verändert – bis hin zu Alltag und Beruf.

Foto: Andreas Kaiser
Beim Blick auf den See schweigen und beten. Foto: Andreas Kaiser


„Die Stille aushalten, bis Du die Stimme hörst, die Dich zum Leben ruft“, lautete das Motto eines Kapuzinerklosters in der Schweiz, in das mich das Leben nach ein paar Umbrüchen vor sechzehn Jahren geführt hatte. Drei Wochen blieb ich. Geschwiegen wurde fast den ganzen Tag. 
Die Mönche hatten sich unter dem Dach eine Meditationshalle eingerichtet. Dort begann der Tag, noch vor der morgendlichen Messe, mit Stille. 25 Minuten sitzen. Regungslos. Nur ich und mein Atem. Ein Meditationswort vielleicht. Bei mir war es am Anfang „Amen“, das ich mit dem Atemrhythmus koppelte. Nicht weil ich musste, sondern weil es mir einfiel. In dem Meditationsraum saßen wir auch vor dem Mittagessen, und abends ging der Tag dort zu Ende. 

Gesprochen wurde nur beim Essen und beim Austausch mit dem geistlichen Begleiter. Oder heimlich. Diese seltenen Gespräche waren die intensivsten Gespräche, die ich in meinem Leben geführt habe. Da ging es nicht um Äußerlichkeiten, das Auto, die Arbeit. Es ging um uns, was uns ausmacht. Um mich als Sohn, mich als Vater beispielsweise. Und ich hatte den Eindruck, in der Stille lernt man seine Mitmenschen besser kennen als im stundenlangen Geplapper. Man kennt sich auf einer anderen Ebene. Man spürt die Energie, die von jemand ausgeht. 
Manche Menschen verschwinden regelrecht, so tief ist ihre Versenkung. Andere zappeln unentwegt rum. Aus Furcht vielleicht, vor der Begegnung mit dem Unbewusstem. Tief beeindruckt hat mich ein Mönch, der jede Meditation kniete. Schmerz verspürte er angeblich nicht. Auf meine Frage, wie er das mache, sagte er: Herzensgebet! Das urchristliche Ruhegebet der Wüstenväter, wie es Pfarrer Peter Dyckhoff lehrt, sollte auch mein Heimathafen, mein Ankerplatz werden.

Meditation ist das härteste Training

Bei einem Erfahrungsaustausch hörte ich mich mal sagen: „Ich denke, der Weg zu mir selbst und der Weg zu Gott hin, das liegt auf der gleichen Reiseroute.“ Mein Beichtvater nickte mir zu und lächelte. Er wusste längst, Gott ist der Urgrund. Und Gott offenbart sich in der Stille, die alles ist, Ruhe und Bewegung zugleich. Die Kraft, die das Universum ausfüllt.

Die deutsche Weitsprungweltmeisterin Malaika Mihambo, die sich gelegentlich zu Schweigewochen nach Fernost zurückzieht, hat einmal gesagt, die Meditation sei ihr härtestes Training. So habe ich das auch erlebt. Vor allem am Anfang kommt in der Stille viel hoch. Verborgenes, Verdrängtes, Liebsames und Unliebsames. Denn am Anfang steht das Denken. Man sitzt unbewegt, aber innerlich rennt man. Zunächst erscheint es fast unmöglich, auch nur eine Sekunde mal nichts zu denken. Unser Geist ist wie ein Gewässer, dessen Oberfläche bei Sturm in Bewegung ist. Doch irgendwann bemerkt man, der Wind legt sich, die Wellen verschwinden, das zuvor trübe Wasser wird klarer. „Die Sedimente legen sich auf den Grund und verwandeln sich mit der Zeit in Humus, aus dem Neues wachsen kann“, sagt mein Gebetslehrer. 

Zurück in Berlin suchte ich mir eine Meditationsgruppe. Denn so mühselig und zäh die Kontemplation zuweilen sein mag, so löst sie bei vielen Übenden doch eine Sehnsucht nach mehr aus. Stille verändert den Menschen. Das beobachte ich auch im Gebetskreis. Am Anfang beim Gottesdank stehen oft die Erfahrungen des Alltags im Vordergrund. Doch nach 20 Minuten Schweigen ist die Atmosphäre wie geläutert, gereinigt. Die Stimmen der Anwesenden klingen versöhnter, die Gebete näher am Kern. 

Und noch Weiteres fiel mir auf. Seit 2004 höre ich kaum Radio. Jedenfalls nie nebenbei, um die Einsamkeit oder irgendein unangenehmes Gefühl zu verscheuchen. Ich mag kein Dauergedudel mehr. Mein Freundeskreis änderte sich. Ich las von einem Tag auf den anderen keine Krimis mehr, die ich zuvor fast süchtig verschlungen hatte. 

Stattdessen wurden spirituelle und christliche Autoren zu meinen Weggefährten. Ich beschäftigte mich mit Mystik. Und ich habe seither, neben der Schnelligkeit, die ich im Beruf brauche, die Langsamkeit entdeckt, fahre lieber Rad als Auto oder gehe zu Fuß. Ich möchte nicht an den Dingen vorbeihasten. 

Auch meine Intuition nehme ich besser wahr. Und ich arbeite sehr bewusst nicht mehr für die oft so aufgeregten, weltlichen Zeitungen, sondern mache den Job, den mir damals ein Mönch empfahl: „Werde doch Journalist bei einer frommen Publikation.“ Auch wenn ich dem Gespräch zunächst kaum Bedeutung beimaß, weiß ich heute, das war sie, die Stimme, die mich zu meinem weiteren Leben rief.

Andreas Kaiser