Die Heimkehrergedächtniskirche St. Norbert in Friedland

„Ein Haus für die Seele“

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Die Hildesheimer Zwölf-Apostel-Kirche von Dieter Oesterlen wurde als neue Mitte in einem jungen Stadtteil konzipiert. Teil fünf unserer Serie zur Nachkriegsmoderne.


Jesus fällt unter dem Kreuz – in der Heimkehrerkirche
St. Norbert ist die Kreuzwegstation der Künstlerin Christa
Adrian auch ein Sinnbild für die gefallene Menschheit.
 

Es ist ein Ort des Ankommens, der Zuflucht, der Hoffnung und des Dankes. Menschen, denen der Schmerz ins Gesicht geschrieben steht, verzweifelt, müde und abgekämpft, eine Gruppe von Flüchtenden zwischen Angst und Zuversicht: Die ausdrucksstarken Wandmalereien in Schwarz und Gold hat die Künstlerin Christa Adrian geschaffen, die großformatigen Darstellungen zeigen Heimatlose auf dem „Weg zur Arche“. Das Wandgemälde findet sich im großen Saal des St.-Ansgar-Hauses, einem der ältesten Gebäude des Grenzdurchgangslagers Friedland südöstlich von Göttingen. „Es könnten biblische Frauen sein, es könnten aber auch Frauen sein, die heute auf der Flucht sind“, betont Monika Tontsch, Kunsthistorikerin und Konservatorin im Bistum Hildesheim.

Nur wenige Schritte entfernt, zwischen den beiden Lagerabschnitten, die heute als Aufnahmestelle für Asylsuchende dienen, liegt die kompakte katholische Heimkehrergedächtniskirche St. Norbert, ein schlichter und bodenständiger Bau aus rotem Backstein mit einem separaten Turm, der das Kirchenschiff mit dem Pfarrhaus verbindet. Das Gotteshaus wurde 1955 geweiht, die Entwürfe stammen von dem Göttinger Architekten Friedrich Wagener und sind in Zusammenarbeit mit dem Lager-Pfarrer Josef Krahe entstanden. Der Geistliche war davon überzeugt, dass die Menschen, die aus russischer Gefangenschaft zurückkehrten, auch „ein Haus für die Seele“ brauchten. Durch die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der kleine Ort zum Grenzort für die sowjetische, britische und amerikanische Besatzungszone. Hier wurden in der Nachkriegszeit auch die Flüchtlinge und Vertriebenen aufgenommen und weitergeleitet. Später dann kamen jüdische Emigranten aus Russland, Flüchtlinge aus Vietnam und Menschen aus anderen Krisenregionen der Welt.
 


Die schlichte St.-Norbert-Kirche mit ihrem markanten
Turm ist Teil der „Straße der Moderne“.

In St. Norbert sind Bau, Ausstattung und Geschichte eng miteinander verzahnt. Die Kirche, die in ihrer Formensprache an die neue Sachlichkeit der Zwischenkriegszeit erinnert, ist Teil der „Straße der Moderne“. Das Deutsche Liturgische Institut in Trier hat diesen Online-Reiseführer initiiert, um auf charakteristische Bauwerke der Nachkriegsmoderne hinzuweisen. Das Gotteshaus an der Heimkehrerstraße möchte den Ankommenden Raum geben – für ihre Gefühle und Ängs­te und für ihren Glauben, der durch die traumatisierenden Kriegs- und Fluchterlebnisse oft erschüttert wurde und wird. Die farbig leuchtenden Fenster an der Südseite des Kirchenschiffs, die der Kirchenkünstler Ludwig Baur entworfen hat, erzählen die Geschichte des Menschen und seiner Erlösung am Beispiel der biblischen Heilsgeschichte. Gegenüber, an der Nordseite, hängt der bewegende Kreuzweg der Künstlerin Christa Adrian. Die 14 Kreuzwegstationen sind auf Kupfertafeln mit Goldgrund gemalt. Ebenso wie bei der Darstellung der Arche im benachbarten St.-Ansgar-Haus greift die Künstlerin, über die nur wenig bekannt ist, Schmerz, Verzweiflung und Todesqualen auf und schreibt diese erschütternden Erfahrungen in die Gesichter der Menschen ein. Das Leiden Christi wird auf besondere Weise nahbar.

„Wenn das Sonnenlicht auf die farbigen Scheiben fällt, wird auch dieser einzigartige Kreuzweg in ein besonderes Licht getaucht. Das ist sehr eindrucksvoll und berührt die Menschen, egal, ob sie gläubig sind oder nicht,“ beobachtet Marlies Schügl, sie ist Mitglied des Pastoralrats von St. Norbert. „Unsere Kirche steht allen Menschen offen, die hier Trost und Halt suchen.“


Die Geschichte der Menschheit und ihre Erlösung
wird auf bunten Glasfenstern erzählt, die Ludwig
Baur geschaffen hat.


Die Heimkehrergedächtniskirche besitzt zwei Ausstattungsstücke, die an die politische Bedeutung von St. Norbert erinnern: die Ewige Lampe, die Bundeskanzler Konrad Adenauer gestiftet hat, und das Tabernakelkreuz, ein Geschenk von Bundespräsident Theodor Heuss. Dieses Kreuz war viele Jahre verschwunden und wurde 2019 unverhofft an die Gemeinde zurückgegeben, heute wird es nur noch zu Gottesdienstzeiten aufgestellt. Diese Kirche für Heimkehrer und Heimatlose ist ein wichtiger Erinnerungsort der deutschen Nachkriegsgeschichte. Um dieses Erbe zukunftsfähig zu machen, hat die Gemeinde von St. Norbert ein neues Leitbild der Öffnung und des Dialogs in und außerhalb von Kirche formuliert. Das neue Banner neben dem Kirchenportal weist darauf hin, dass St. Norbert am Pilgerweg Loccum-Volkenroda liegt.

Die Heimkehrergedächtniskirche arbeitet auch mit dem Museum Friedland zusammen, das 2016 im historischen  Bahnhofsgebäude als „Lernort für Migration und Integration“ eröffnet wurde. In der Dauerausstellung „Fluchtpunkt Friedland“ wird die Geschichte der Flucht und Migration bis in die Gegenwart präsentiert. „Wir bieten auch gemeinsame Veranstaltungen an“, erklärt Marlies Schügl, die die Gemeinde im Arbeitskreis des Museums vertritt. Geplant ist zudem ein Museumspfad, der die historischen Stätten miteinander verbindet. Die Werke der Künstlerin Christa Adrian im St.-Ansgar-Haus im Lager und in St. Norbert werden zu den berührendsten Wegmarken gehören.

Die Kirche St. Norbert ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, das Museum Friedland mittwochs bis sonntags von 10 bis 18 Uhr.

Karin Dzionara

 

 

 

 

Nachkriegsmoderne

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