„Spring-School“ in Bergen-Belsen

Ein Leben und doch kein Leben

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Junge Menschen aus verschiedenen Ländern sind zu einer „Spring School“ auf dem Gelände der Gedenkstätte an das frühere KZ Bergen-Belsen zusammengekommen. Sie wollen aus der Geschichte lernen, die komplexer ist, als viele es vorher gedacht haben.


Marcin Schink erläutert vor dem jüdischen Denkmal in
Bergen-Belsen Jugendlichen die Geschichte des früheren
Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagers.

Am Gedenkstein für Anne und Margot Frank macht Ilka Witte Halt. „Fast täglich werden hier Blumen oder auch Briefe abgelegt“, sagt die 25-jährige Geschichtsstudentin. Doch begraben liegen Anne und Margot nicht unter dem schlichten Stein, den ihr Cousin zur Erinnerung errichten ließ, sondern irgendwo auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers Bergen-Belsen bei Celle. Ilka Witte geht mit einer Gruppe Jugendlicher über die parkähnliche Heidelandschaft mit den Massengräbern. Nur wenig erinnert dort heute noch an den Ort, an dem das jüdische Mädchen, ihre Schwester und mehr 52 000 weitere KZ-Häftlinge umkamen.

20 Jugendliche aus vier Ländern

Madi Kiss ist dennoch beeindruckt. Er hat noch frisch die Bilder aus der Ausstellung der Gedenkstätte im Kopf, die zusammengeschobene Berge von Leichen zeigen. „Die Bilder sprechen für sich, erschütternd. Wie kann jemand so etwas tun?“, sagt er und geht schweigend weiter. Der 17-Jährige aus der Slowakei gehört zu den rund 20 Jugendlichen aus vier Ländern, die an dem Internationalen Jugendworkcamp „Spring School“ teilnehmen. Der Landesjugendring Niedersachsen hat dazu in Kooperation mit der Gedenkstätte eingeladen, zum 29. Mal schon, immer im Frühjahr anläslich des Jahrestags am 15. April, an dem an die Befreiung Bergen-Belsens durch britische Truppen 1945 erinnert wird.

Erstes Präsenz-Treffen nach Corona

„Nach einer Unterbrechung durch Corona fangen wir erstmals wieder vollständig in Präsenz an, noch mit einer kleineren Gruppe“, erläutert Norik Mentzing, Jugendbildungsreferent im nahegelegenen Anne-Frank-Haus. In früheren Jahren waren unter anderem auch aus Israel und Südafrika junge Menschen angereist. Jetzt sind neben Deutschen Gruppen aus Polen, der Slowakei und Litauen vertreten – und eine Vietnamesin. Mai Ngo studiert derzeit in Gießen. Sie wurde durch eine Anzeige am Schwarzen Brett der Uni auf das Workcamp aufmerksam, berichtet sie.
Jetzt steht sie vor der Inschriftenwand, die an die Opfer des Lagers erinnert und macht sich Gedanken über die deutsche Geschichte, wie sie im Unterricht in ihrer Heimat nicht einmal annähernd vorkamen. Bergen-Belsen sei kein Vernichtungslager gewesen, sondern am Anfang ein sogenanntes Austauschlager. „Ich habe gedacht, das bedeutet für die Inhaftierten überleben, aber hier wurden Menschen auf andere Art zu Tode gequält, durch Hunger, Krankheiten, Läuse“, sagt sie. „Es war ein Leben und doch kein Leben.“

Bei dem Rundgang geben die Betreuer Ilka Witte und Marcin Schink weitere Einblicke, die komplexer sind als manche vorher dachten. Um Ilka Wittes Schulter baumelt eine Stofftasche mit der Aufschrift „Was bedeutet Bergen-Belsen heute?“, in der sie Bilder und anderes Anschauungsmaterial transportiert. Die 25-Jährige zeigt auf eine Bronzetafel am Boden, die erst 1999 eingeweiht wurde. „Warum war das nötig?“, fragt sie und erklärt, dass dort erstmals alle Opfergruppen des Lagers aufgeführt wurden, unter ihnen neben Juden auch politische Gegner des Nationalsozialismus, Zeugen Jehovas und Homosexuelle. „Viele der hier erwähnten Gruppen wurden auch nach 1945 noch diskriminiert und teils inhaftiert.“

 


Jugendliche betrachten einen Gedenkstein, der an
Anne Frank und ihre Schwester Margot erinnert.

Was Menschen einander antun können

Die Tafel erwähnt auch Kriegsgefangene. Dass Bergen-Belsen auch ein Kriegsgefangenenlager war, in dem rund 20 000 zumeist sowjetische Kriegsgefangene ums Leben kamen, sei in Zeiten des Kalten Krieges mit Russland lange ausgeblendet worden, veranschaulicht Marcin Schink.

Vor dem Rundgang hat die Leiterin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Elke Gryglewski, den Jugendlichen einen erfolgreichen Tag gewünscht. „Ihr seid sehr wichtig in diesen Zeiten“, hat sie ihnen mit auf den Weg gegeben. In der Abschlussrunde zeigt sich, vieles muss erst einmal sacken. Ieva Tribuisyté aus Litauen sagt: „Ich bin traurig und enttäuscht von den Menschen und dem, was sie einander antun können.“ Die 18-Jährige aus der ehemaligen Sowjetrepublik blickt dabei auch in die Gegenwart und Zukunft. „Es gibt Gegenden in der Welt, in denen heute Krieg herrscht“, sagt sie. „Krieg und politische Konflikte werden wohl immer Teil unseres Lebens sein.“

Karen Miether (epd)