Sonderausstellung „Leere und Form“ im Dommuseum

Ein Neubeginn bei Null

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Die Sonderausstellung „Leere und Form“ im Dommuseum ist keine leichte Kost. Die Werke der Künstlergruppen Zero und Gutai brechen mit unseren Sehgewohnheiten. Aber wer um die Ecke denkt, entdeckt bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit den mittelalterlichen Schätzen.


Der „Lichtwald“ von Heinz Mack vor
dem gekreuzigten Christus.

Es ist ein eigentümlicher Reiz, der von der neuen Sonderausstellung im Dommuseum ausgeht – mittelalterliche Schätze bilden den Rahmen für moderne Kunst, und auf den ersten Blick haben silberne Kelche, Monstranzen, liturgische Gewänder oder Gemälde nicht viel zu tun mit Farbflächen, einem blutroten Nagelbrett oder einem goldenen Glaskissen. Aber wer sich auf „Leere und Form“, so der Titel der Ausstellung mit Werken aus der Sammlung der hannoverschen Kunstsammlerin Christiane Hackerodt einlässt, entdeckt ungewohnte und überraschende Gemeinsamkeiten. Allerdings ist es hilfreich die Ratschläge zu beherzigen, die Museumsdirektorin Claudia Höhl für den Rundgang mitgibt: Sich frei machen von Erwartungen. Den Mut haben, sich etwas anzuschauen, was nicht auf den ersten Blick zu erschließen ist. Quasi bei Null anzufangen.

Damit sind wir bereits mitten im Thema; denn ein völliger Neubeginn war auch die Absicht der Künstlergruppe Zero, die sich nach dem Krieg zusammenfand und aus guten Gründen mit allen Gewohnheiten brechen wollte. Daraus entwickelte sich bald das Konzept, dem Betrachter jede Interpretationsmöglichkeit zu geben. Wie entwickelt sich der Dialog mit dem Werk bei totaler Offenheit? Diese Frage stellten sich die Mitglieder von Zero – zunächst Heinz Mack und Otto Piene, später stieß noch Günther Uecker dazu.

Nicht um eine sinnlose Leere ging es ihnen, sondern um eine unbelastete, sagt Claudia Höhl. Und mit ihrem Verweis auf den Apostel Paulus liefert sie gleich auch einen Grund, die Werke der Künstlergruppe in einem Dommuseum zu präsentieren: „Der Mensch soll sich leer machen für Gott. Nur dann erkennt er das Wesentliche.“ Eine höchst aktuelle Aussage, ist sie überzeugt. Denn letztlich gehe es um die Frage: „Was brauchen wir wirklich?“

Interessant ist das Konzept, die Exponate nicht konzentriert an einem Ort des Museums zu zeigen. Stattdessen sind sie bis auf wenige Ausnahmen in die bestehende Ausstellung integriert. Zu den einzeln präsentierten Werken gehört allein schon aufgrund ihrer Größe gleich zu Beginn des Rundgangs eine tiefblaue Installation des koreanischen Künstlers Kwang Young Chun. Wer näher heran- tritt, erkennt die Zusammensetzung aus einer Vielzahl kleiner Medikamentenschachteln, die in ihrer Gesamtheit eine Art Schale bilden. Der Titel „Aggregation 15-MY26“ hilft nicht unbedingt weiter. „Was soll das?“, wird vielleicht mancher fragen – aber bevor er zu sehr ins Grübeln kommt, wieder ein Hinweis von Museumsdirektorin Höhl: „Ich kann ja auch die Blüte einer Blume schön finden, ohne dass ich dafür das komplette botanische Wissen haben muss.“ Ein hilfreicher Gedanke, der das Herangehen an „Leere und Form“ in jedem Fall erleichtert.  
 


„o.T. (rot)“. Nagelbrett von Bernhard
Aubertin.

Manche Exponate entwickeln je nach Blickwinkel eine ganz unterschiedliche Deutungsmöglichkeit. Schön in seiner klaren einfachen Form ist das Blatt der Lotusblume, „Süßer Regen“ von Morio Nishimura. Die Natur hat vorgesehen, dass sich die Blüte dem Himmel öffnet und den Regen aufnimmt. Eine komplett andere Annäherung wird im Zusammenspiel des Blattes mit den goldenen Kelchen möglich: Auch das sind weit geöffnete, zunächst leere Gefäße, deren wirkliche Bedeutung sich erst in der Feier der Eucharistie erschließt. Hier wie dort: erst die völlige Leere macht es möglich, sich füllen zu lassen. Um die Ecke denken – das ist hier nicht nur erwünscht, sondern oft die Voraussetzung, die ungewöhnliche Präsentation für sich zu erschließen. Hilfreich, dass es ein erläuterndes Faltblatt gibt, das im Museum ausliegt – und für alle, die tiefer in diese Gedanken einsteigen wollen, einen ausführlichen Katalog.

Wie spirituell, möglicherweise religiös ist die aktuelle Ausstellung im Dommuseum? Beim schnellen Betrachten wird es keine Antwort geben, die zufrieden stellen könnte. Am leichtesten fällt sie vielleicht am Ende des Rundgangs vor dem Lettner. Hell ist der Raum, fast strahlend weiß. Werke der Gruppe Zero spielen hier noch einmal mit Licht und Form. Günther Uecker 1972: „Der Zustand Weiß kann als Gebet verstanden werden.“ Andererseits: Im Zusammenspiel mit Leere ist das nur schwer auszuhalten. Entsprechend kritisiert wurde die Gestaltung der Aachener Kirche St. Fronleichnam, ein Schlüsselbau der modernen Sakralarchitektur, geweiht 1930. Das gestalterische Konzept verteidigte damals Romano Guardini: „Das ist keine Leere, das ist Stille! Und in der Stille ist Gott.“

dommuseum-hildesheim.de

Stefan Branahl