"Alte Mauern, neues Leben": Schloss Reichenberg
Ein Schloss im Odenwald
Ruth Lehnen
Simon Heymann ist perplex, als er von dem Titel „Alte Mauern – neues Leben“ hört. Denn Schloss Reichenberg habe ja fast denselben Slogan: „Neues Leben in alten Mauern“. Gleich folgt die Einladung aufs Schloss, und an einem Tag mit viel Sonnenschein wird der kleine Aufstieg von Reichelsheim aus in Angriff genommen: Die Burg thront hoch, deswegen gibt es von hier auch einen herrlichen Ausblick. Simon Heymann, Architekt, ist einer der heutigen „Schlossherren“. Zur Zeit leben im Schloss acht Erwachsene, davon sechs, die zur Kommunität Offensive Junger Christen (OJC) gehören, dazu zwei „Mitlebende“, und fünf Kinder. „Es gibt keinen günstigeren Ort, um Kinder aufwachsen zu sehen“, sagt der Familienvater. Seine drei Kinder machen auch schon die Erfahrung: Hinunter geht’s leicht, hinauf kann es ein bisschen anstrengend sein.
Mit seinem Beruf als Architekt ist Heymann, der aus Bielefeld stammt, hier oben sehr gefragt, denn die OJC hat aus den verfallenden Gemäuern wieder ein Schmuckstück gemacht, hat die Michaelskapelle restauriert und bei der Restaurierung des „Krummen Baus“ von 1554 Bestechendes geleistet. Bald wird auch die Schlossmauer nach jahrelangen Arbeiten wieder fertiggestellt sein.
Es gehe ihm jetzt um die „Architektur des Menschen“, sagt Simon Heymann. Er hat sich zeitweise für die Erlebnispädagogik im „Erfahrungsfeld Schloss Reichenberg“ engagiert, bei der Jugendgruppen sich selbst und den Glauben erfahren können. Derzeit kümmert er sich um den Einsatz der jungen Leute, die hier ein Freiwilligenjahr absolvieren, „Jahresmannschaftler“ heißen sie bei der OJC.
Auf Schloss Reichenberg ist kein Tag wie der andere
Auf der Burg sei kein Tag wie der andere, erzählt Heymann. Im Erfahrungsfeld soll etwas angeboten werden, das kein Standard ist. Der große Saal des Krummen Baus mit seinen herrlichen alten Holzpfeilern ist mit seiner Größe und seinem Zuschnitt absolut kein Standard. Ungewöhnlich ist auch der Klangbrunnen: Viele Jugendliche aus der Region haben sich schon damit befasst, Wasser vom alten Brunnen so zum Klangbrunnen zu leiten, dass Musik erklingt. Das geht nur – ein Lerneffekt – gemeinsam.
Gemeinschaft ist für die OJC wichtig, die Mitglieder streben eine Einheit von Leben, Arbeiten, Denken und Glauben an. Mittags, wenn die Glocke der kleinen Kapelle läutet, lassen sie liegen, was sie gerade beschäftigt, und treffen sich zum selbst organisierten Gebet und zum Singen.
Heymann als Mitglied der OJC trägt einen Ring als Erkennungszeichen. Die OJC ist ein Spendenwerk. Wie die anderen Mitglieder bekommt er ein kleines Gehalt und hat sich zu einem einfachen Lebensstil verpflichtet. Er sieht in den alten Mauern des Schlosses eine Art Gleichnis: Was hier „seit ewig“ war, Höhen und Tiefen erlebt hat, als wertlos gesehen wurde, verfallen war, das wird wieder aufgerichtet: „Obwohl es in einem Menschen vielleicht ruinös aussieht, kann Jesus ihn wieder aufrichten.“ Insofern sage er immer wieder: „Jesus, es ist Dein Schloss. Jesus ist der Bauherr“. „Es ist ein anderer Geist, der hier herrscht“, ist Heymann überzeugt: „Wir erzeugen Freude.“ Das stimmt auch beim Mittagessen, zu dem sich an diesem Tag alle treffen und den Gast einladen. Trotzdem hat es auch starke Kritik an den Überzeugungen der OJC gegeben.
Simon Heymann äußert sich dazu nur sehr zurückhaltend. „Die Themen kommen zu uns auf zwei Beinen“, sagt er. Nachdem sich Menschen in Lebenskrisen aufgrund ihrer Geschlechts-identität oder mit Missbrauchserfahrungen an die OJC gewandt hätten, habe sich die Gemeinschaft mit den Themen Gender und Sexualethik auseinandergesetzt und sich im Kontext des christlich-jüdischen Menschenbilds positioniert. Die Gemeinschaft habe „nie Therapien gemacht“. (siehe dazu auch unten "Hintergrund")
In Reichelsheim gehört die OJC seit 1979 dazu, Mitglieder engagieren sich in Vereinen, Chören und im Gemeinderat, als Prädikant der evangelischen Kirche predigt ein Mitglied in den Gottesdiensten und wird bald auch beerdigen. Das Schloss als touristischer Anziehungspunkt wird von der Gemeinschaft geöffnet, zum Beispiel an Wochenenden und Feiertagen mit einem beliebten Café.
https://www.schlossreichenberg.de/
HINTERGRUND
Offensive Junger Christen (OJC)
- Die Wurzel der ökumenischen Gemeinschaft „Offensive Junger Christen“ liegt in der Zeit der Studentenunruhen 1968. Junge Leute wagten das Experiment eines gemeinsamen Lebens. Daraus entwickelte sich die ökumenische Kommunität Offensive Junger Christen (OJC) mit heute mehr als 100 Mitlebenden.
- 1979 hat der Verein OJC Schloss Reichenberg in Reichelsheim/Odenwald gekauft und zu einer Begegnungs- und Tagungsstätte ausgebaut; seit 2010 gibt es „Das Erfahrungsfeld Schloss Reichenberg“, in dem die Gemeinschaft vor allem Jugendlichen wie Schülern, Konfirmandinnen und Konfirmanden und Firmlingen Angebote macht. Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt, die Arbeit wird durch Spenden getragen.
- Erster Vorsitzender des Vereins sowie Prior der Kommunität ist Konstantin Mascher, der im Hauptvorstand der Evangelischen Allianz Deutschlands ist. Die OJC hat sich mit ihrem „Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft“ (DIJG) stark in gesellschaftlichen und sexualethischen Fragen positioniert, vor allem gegen Feminismus, „Genderismus“ und zum Thema Homosexualität. Der Vorwurf, so genannte Konversionstherapien zu unterstützen, die zur „Umerziehung“ von Homosexuellen führen sollen, sei falsch, heißt es. Seit Dr. Christl Vonholdt nicht mehr Leiterin des DIJG ist, wurde es ruhig um das Institut.
- Mit den Publikationen „Salzkorn“ und „Brennpunkt Seelsorge“ wendet sich die OJC an die Öffentlichkeit. OJC-Mitglieder sehen die „von Gott geschaffene und gewollte Zweigeschlechtlichkeit als Grundlage von Ehe und Familie“ bedroht. Christliche Familien müssten eine „Zelle der Widerständigkeit“ bilden, fordert Rudolf M. J. Böhm im „Brennpunkt Seelsorge“ 2/2021. Konstantin Mascher macht im „Salzkorn“ 2/2022 die „Bruderschaft des Weges“ zum Thema, in der Männer sich zusammengetan haben, die aufgrund ihrer christlichen Identität ihre Homo- oder Bisexualität nicht leben wollen. Aus den Schriften, anders als beim freundlichen Empfang im Schloss, ergibt sich das Bild einer Gemeinschaft, die ihr christliches Menschenbild konträr zur Gesellschaft versteht. In der Gesellschaft erlebe der „Diabolos, der Durcheinanderbringer, eine Hochzeit“, sagte Konstantin Mascher 2017.