Der blind geborene Bettler, den Jesus heilt, wird oft unterschätzt: Er ist Debattenredner
Eine heiße Diskussion
Das Evangelium dieses Sonntags, die Heilung des Blindgeborenen, ist sehr beliebt, selbst in Kinderbibeln. Aber haben Sie schon mal die ganze Geschichte gelesen? Die ist nämlich viel länger, als sie üblicherweise vortragen und abgedruckt wird. Und außerdem ziemlich interessant.
Von Susanne Haverkamp
Die erste längere Stelle, die es aus der Originalgeschichte im Johannesevangelium nicht in die Kurzfassung des Lektionars geschafft hat, ist gleich nach dem einleitenden Satz, dass Jesus unterwegs einen blind geborenen Mann sieht. Das fordert seine Jünger nämlich zu einer theologischen Frage heraus:
Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, so dass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.
Schon hier wird deutlich, was die Kurzfassung vergisst: Der Evangelist Johannes will keine erstaunliche Heilungsgeschichte erzählen. Ihm geht es um Jesus, um das, was er ist, nicht um das, was er kann. Darüber wird in der gesamten Geschichte in mehreren Schritten diskutiert.
Schritt 1: Nachbarn und Bekannte
Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen geöffnet worden? Er antwortete: Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Teig, bestrich damit meine Augen und sagte zu mir: Geh zum Schiloach und wasch dich! Ich ging hin, wusch mich und konnte sehen. Sie fragten ihn: Wo ist er? Er sagte: Ich weiß es nicht.
Die Menge wird daraus nicht wirklich schlauer. Es folgt ...
Schritt 2, den auch die Lesung kennt: der Geheilte wird zu den Experten geschickt, den religiösen, medizinische gab es damals noch nicht. Auch sie befragen ihn und bekommen dieselbe Geschichte erzählt. Was unter den Pharisäern zu einer Spaltung führt: Die einen sind pro, die anderen contra Jesus. Was darauf folgt, lässt die Kurzfassung aus:
Schritt 3: Zeugenbefragung
Die Juden aber wollten nicht glauben, dass er blind gewesen und sehend geworden war. Daher riefen sie die Eltern des von der Blindheit Geheilten und fragten sie: Ist das euer Sohn, von dem ihr sagt, dass er blind geboren wurde? Wie kommt es, dass er jetzt sieht? Seine Eltern antworteten: Wir wissen, dass er unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde. Wie es kommt, dass er jetzt sieht, das wissen wir nicht. Und wer seine Augen geöffnet hat, das wissen wir auch nicht. Fragt doch ihn selbst, er ist alt genug und kann selbst für sich sprechen! Das sagten seine Eltern, weil sie sich vor den Juden fürchteten; denn die Juden hatten schon beschlossen, jeden, der ihn als den Christus bekenne, aus der Synagoge auszustoßen.
Die Eltern sind vorsichtig. Nichts sehen, nichts hören, nichts wissen. Die genannte Sorge, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden, ist allerdings anachronistisch. Sie spiegelt vielmehr die Zeit um 90 nach Christus, als die Jesusbewegung endgültig zur eigenständigen Religion wurde und es kaum noch Brücken zwischen Kirche und Synagoge gab. Für die Beweisaufnahme bringen die Eltern allerdings wenig Erhellendes ein, deshalb folgt ...
Schritt 4: die erneute Befragung des Geheilten
Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. Er antwortete: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Nur das eine weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe.
Sie fragten ihn: Was hat er mit dir gemacht? Wie hat er deine Augen geöffnet? Er antwortete ihnen: Ich habe es euch bereits gesagt, aber ihr habt nicht gehört. Warum wollt ihr es noch einmal hören? Wollt etwa auch ihr seine Jünger werden?
Jetzt wird er ein bisschen frech, der Geheilte. Mit „Wollt auch ihr seine Jünger werden?“, fordert er, der Bettler, die religiöse Elite heraus. Kein Wunder, dass auch die Pharisäer pampig werden:
Da beschimpften sie ihn: Du bist ein Jünger dieses Menschen; wir aber sind Jünger des Mose. Wir wissen, dass zu Mose Gott gesprochen hat; aber von dem da wissen wir nicht, woher er kommt.
Der Geheilte antwortet darauf erst ironisch und argumentiert dann logisch:
Der Mensch antwortete ihnen: Darin liegt ja das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er kommt; dabei hat er doch meine Augen geöffnet. Wir wissen, dass Gott Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut, den erhört er.
Die nachvollziehbare Konsequenz:
Wenn dieser nicht von Gott wäre, dann hätte er gewiss nichts ausrichten können.“
Erst nach diesem langen Abschnitt setzt die Kurzfassung wieder ein, mitten im Streitgespräch. Das mit dem halben Bekenntnis des Geheilten endet: „Er ist ein Prophet.“ Und mit einem Hinauswurf.
Schritt 5 ist im Lesungstext enthalten: die erneute Begegnung von Jesus und dem Blindgeborenen. Und sein endgültiges Bekenntnis: „Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder.“ Was hingegen fehlt, ist ...
Schritt 6: der Schlussdialog
Da sprach Jesus: Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen: damit die nicht Sehenden sehen und die Sehenden blind werden. Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten dies. Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind? Jesus sagte zu ihnen: Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde.
Ein interessanter Gedanke zum Schluss: Wer einsieht, dass er blind ist, dass er irren kann, der kann gerettet werden. Wer aber trotz guter Gegenargumente und nach vielen Diskussionen darauf beharrt, die alleinige Wahrheit zu sehen, der könnte ein Problem mit Jesus bekommen. Wobei: Eigentlich sind sie ja zu verstehen, die Pharisäer: Als ob ein ungebildeter, blind geborener Bettler den geistlichen Herren irgendetwas zu erklären hätte. Das wäre ja noch schöner. Damals wie heute.