Interview mit Nora Roßner über pflegende Jugendliche

"Eine Überbelastung kann Ängste auslösen"

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Wann wird Pflege für Kinder und Jugendliche zum Problem? Warum reden sie oft nicht über ihre Sorgen? Und: Wie könnten sie besser unterstützt werden? Antworten von Nora Roßner, Referentin für Pflege bei der Caritas.

Foto: privat
Nora Roßner ist Referentin für Pflege bei der Caritas. Foto: privat


Frau Roßner, wieso ist so wenig über die Situation pflegender Jugendlicher in Deutschland bekannt?
Es ist schwierig, konkrete Zahlen und Angaben zur Situation pflegender Kinder und Jugendlicher zu bekommen. Das liegt zum einen daran, dass man bei Erhebungen immer auf die Auskunft der Betroffenen angewiesen ist. Für junge Menschen mit Pflegeverantwortung ist ihre Situation aber ein sehr sensibles Thema, das sie nicht gerne nach außen tragen. Zum anderen gibt es keine einheitliche Definition, wann Kinder und Jugendliche tatsächlich pflegen und wann sie lediglich Unterstützung im Haushalt leisten. Es ist schließlich ein Unterschied, ob ein Jugendlicher einmal in der Woche für die Großmutter einkauft oder ob er täglich die komplette Körperpflege bei einem pflegebedürftigen Elternteil übernimmt.

Was ist Kindern zumutbar – und ab welchem Alter?
Eine Altersgrenze möchte ich nicht festlegen. Wie belastend die Pflege ist, hängt davon ab, welche Aufgaben die Kinder und Jugendlichen übernehmen und wie die gesamte Pflegesituation aussieht. Auf keinen Fall dürfen Kinder und Jugendliche die Hauptpflegepersonen sein. Andererseits können sie auch nicht ganz gegen eine Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit in der Familie abgeschirmt werden. Ich würde deswegen nicht sagen, dass etwa ein sechsjähriges Kind nicht in begrenztem Maße Aufgaben im Zusammenhang mit Pflege übernehmen und auch unterstützen kann. Aber sein Alltag sollte nicht durch die Pflege dominiert werden. 

Was sind die psychischen Folgen, wenn Kinder überfordert werden?
Eine Überlastung kann Stressreaktionen, Gefühle der Hilflosigkeit, Ängs-te, Scham und Depressionen auslösen, beispielsweise die Angst, dass der pflegebedürftige Elternteil nicht mehr zu Hause bleiben kann, in ein Heim muss oder stirbt. Häufig übernehmen Kinder und Jugendliche Pflege in großem Umfang ja gerade in den Familien, die sie nicht wirklich unterstützen – beispielsweise wenn ein alleinerziehender Elternteil schwerkrank ist und das soziale Netz fehlt.

Welche Folgen hat die Überforderung noch?
Pflegende Kinder und Jugendliche fühlen sich häufig alleingelassen und haben das Gefühl, mit niemandem über ihre Ängste und Sorgen reden zu können. Das liegt nicht nur daran, dass sie keine sozialen Kontakte haben, da die Pflege viel Zeit beansprucht. Oft wollen sie auch mit niemandem reden. Häufig gibt es auch schulische Folgen: Die betroffenen Kinder und Jugendlichen können sich nicht richtig konzentrieren, ihre Leistungen verschlechtern sich, sie schaffen es nicht, ihre Hausaufgaben zu machen. Manche gehen nicht oder nur eingeschränkt zur Schule.

Kann die Pflege für die Kinder und Jugendlichen auch Vorteile haben?
Ja, durchaus. Pflegende Kinder und Jugendliche berichten von positiven Erfahrungen wie einem gesteigerten Selbstwertgefühl, weil sie vieles selbstständig regeln können und dadurch das Gefühl haben, gut auf das Leben vorbereitet zu sein. Außerdem erzählen sie, dass die Familie durch die Pflege enger zusammenrückt.

Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für junge Pflegende?
Zunächst einmal bekommen pflegende Kinder und Jugendliche die Unterstützung, auf die pflegende Angehörige allgemein Anspruch haben. Das sind Leistungen der Pflege- und Krankenversicherung wie beispielsweise Kurzzeitpflege, die jedoch nicht speziell auf die Situation von jungen Pflegenden angepasst sind, sondern dem Kranken zustehen und dadurch seine Angehörigen entlasten. Speziell für pflegende Kinder und Jugendliche gibt es Sorgentelefone oder Online-Beratungen. Gerade in Situationen, in denen sie alleine sind und von Sorgen überwältigt werden, ist es wichtig, sich mit jemandem austauschen zu können – und das am besten rund um die Uhr. 

Wer sollte einschreiten, wenn pflegende Jugendliche Hilfe brauchen?
Wenn pflegebedürftige Menschen zu Hause versorgt werden, müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ambulanten Diensten noch stärker für die Probleme pflegender Jugendlicher sensibilisiert werden. Die Mitarbeiter des Pflegedienstes sollen damit aber auch nicht überfordert werden. Sie können und sollten keine komplette psychosoziale Beratung der Kinder und Jugendlichen leisten. Sie sollten jedoch schauen, wer im Haushalt in welchem Umfang an der Pflege beteiligt ist. Und sie sollten entsprechende Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten für pflegende Kinder und Jugendliche bei Bedarf vermitteln können. Wichtig ist außerdem eine enge Vernetzung mit anderen sozialen Diensten wie etwa der Familienpflege.

Was muss sich ändern, um die Situation der jungen Pflegenden zu verbessern?
Notwendig ist ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass es Pflegesituationen gibt, in denen Kinder und Jugendliche einen Großteil der Arbeit leisten. Dieses Bewusstsein muss sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei den Kindern und Jugendlichen selbst geweckt werden. Und es ist wichtig zu fragen, wie sie selbst ihre Situation sehen, welche Unterstützung sie sich wünschen, welche konkreten Hilfeleistungen sie benötigen. Außerdem muss insbesondere in Schulen und Ausbildungsstätten „Junge Pflege“ ein Thema werden. Lehrer und Ausbilder müssen dafür sensibilisiert werden, dass eine belastende Pflegesituation ein Grund dafür sein könnte, dass ein Kind oder ein Jugendlicher häufig fehlt oder seine Leistungen nachlassen.

Was bringt es, wenn der Gesellschaft das Problem bewusst wird? 
Wenn wir ein Bewusstsein schaffen in Gesellschaft, Politik und Medien, können Kinder und Jugendliche ihre Ängs-te und Scham, die häufig mit einer familiären Pflegesituation verbunden sind, abbauen. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig: Pflegende Kinder und Jugendliche brauchen unsere Unterstützung. Auch bei sehr aufwendiger Pflege ist es möglich, jemanden zu Hause zu versorgen – wenn die entsprechenden Hilfen da sind. 

Interview: Christoph Brüwer