Caritas-Präsidentin im Interview

„Es fehlt die innere Logik“

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Seit dem Beginn des Ukrainekriegs steigen die Energiepreise rasant. Das belastet vor allem Familien und Geringverdiener. Das Maßnahmenpaket der Bundesregierung entlaste aber nicht alle Bürgerinnen und Bürger, sagt Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa.

Caritas-Präsidentin Eva-Maria Welskop-Deffaa
Caritas-Präsidentin Eva-Maria Welskop-Deffaa

Der Deutsche Caritasverband hat bereits im Dezember vor den sozialen Folgen der steigenden Energiekosten gewarnt. Seit dem Beginn des Ukrainekriegs hat sich die Situation dramatisch verschärft. Die Preise für Heiz- und Treibstoffe sind explodiert. Haben Sie einen Überblick, wie viele Menschen in Deutschland sich schon jetzt keinen Strom oder eine warme Wohnung mehr leisten können?

Bereits im Jahr 2020 gab es nach Angaben der Bundesnetzagentur 230.000 Stromsperren. 24.000 Haushalten wurde das Gas abgestellt. Da diese Sperren in der Pandemie teilweise ausgesetzt wurden, tun wir uns mit aktuellen Zahlen etwas schwer. Wir gehen davon aus, dass sich die Zahl der Familien und Haushalte, die ihre Energierechnungen nicht mehr bezahlen können, gegenüber 2020 um mindestens 30 Prozent erhöht hat. Auch in unseren eigenen Einrichtungen machen sich die hohen Energiepreise inzwischen sehr deutlich bemerkbar. Die ambulante Pflege leidet dramatisch an den gestiegenen Treibstoffpreisen.

Was heißt das konkret?

In Münster beispielsweise lagen die Ausgaben für Treibstoffe in der ambulanten Pflege im vergangenen Jahr bei 25.000 Euro, bei einem Durchschnittpreis von 1,58 Euro pro Liter Sprit. Wenn der Liter Benzin jetzt 2,20 Euro kostet, steigen die Ausgaben auf 37.000 Euro. Pro Fahrzeug und Monat bedeutet dies Mehrkosten von 110 Euro aufwärts. Da die Refinanzierung der Dienste immer im Vorhinein ausgehandelt wird, kann man sich ausrechnen, vor welchen finanziellen Herausforderungen die ambulante Pflege jetzt steht.

Muss die Caritas bei der Versorgung Alter und Kranker schon draufzahlen?

Stellenweise ja. Da die privaten Anbieter vielerorts unlukrative Touren gar nicht erst übernehmen, sind es die gemeinnützigen ambulanten Dienste, die die Pflegebedürftigen in abgelegenen Gegenden versorgen. Wenn jetzt lange Strecken über die Dörfer so viel teurer werden, ist die Versorgung im ländlichen Raum ernsthaft gefährdet.

Und da hilft ihnen das neue Maßnahmenpaket der Bundesregierung zum Umgang mit den hohen Energiekosten nicht?

Um den von den hohen Energiepreisen besonders betroffenen Unternehmen zu helfen, werden ihnen zinsgünstige Kredite in Aussicht gestellt. Solche Kredite helfen uns kein bisschen. Auch die müssen irgendwann bezahlt werden. Anscheinend hat die Bundesregierung das Problem der ambulanten Pflege nicht im Blick.

Die Ampelkoalition suggeriert in ihren Stellungnahmen zum Maßnahmenpaket jedoch, dass sie Entlastungen für alle Bürgerinnen und Bürger beschlossen hat.

Das stimmt aber leider nicht. Die sogenannte Energiepauschale in Höhe von 300 Euro soll nur an Erwerbstätige ausgeschüttet werden. Die Nichterwerbstätigen werden nicht berücksichtigt, insbesondere die Rentnerinnen und Rentner nicht. In den letzten Entlastungspaketen wurden etliche Maßnahmen - vom Einmalbonus zum Kindergeld, über den Heizkostenzuschuss für Wohngeldbezieher bis hin zur Energiepauschale –wild zusammengewürfelt. Das ist für die Bürgerinnen und Bürger kaum zu überschauen. Noch verwirrender: Manche Maßnahmen gelten für drei Monate, andere für sechs. So macht man keine Politik, die von der Bevölkerung verstanden und mitgetragen werden kann.

Andere Kritiker sprechen von einer Mogelpackung, da der Energiezuschuss versteuert werden muss und so bei vielen Menschen statt der versprochenen 300 Euro nur rund 200 Euro ankommen werden. Teilen Sie die Kritik?

Nein. Die Versteuerung des Energiegeldes führt ja dazu, dass eine soziale Differenzierung stattfindet. Besserverdienende haben bekanntlich höhere Steuersätze als Geringverdienende.

Wie beurteilen Sie die Pläne, auch mit Blick auf den Klimaschutz, demnächst kostengünstige Tickets für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auszugeben?

Es ist schön, dass die Bundesregierung verstanden hat, dass Busse und Bahnen für Geringverdienende zu teuer sind. Dass man diese Maßnahme auf 90 Tage begrenzt, ist aber nicht nachvollziehbar. Eine nachhaltige Förderung des klimafreundlichen ÖPNV als Alternative zum klimaschädlichen Individualverkehr sieht anders aus. Mit Einmalangeboten dieser Art entsteht vor allem ein völlig unverhältnismäßiger Umsetzungsaufwand.

Der Bund will zudem die Energiesteuer auf Kraftstoffe von jetzt etwa 65 Cent um 30 Cent je Liter senken. Davon würden auch SUV-Fahrer mit 250.000 Euro Jahresgehalt profitieren. Ist das sozial gerecht?

Natürlich nicht. Da auch diese Maßnahme nur auf drei Monate befristet ist, bleibt zudem fraglich, ob sie den einkommensschwächeren Menschen, die auf ihr Auto angewiesen sind, ausreichend hilft. Es ist zu begrüßen, dass der Bund mit dem Paket insgesamt versucht, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz unter einen Hut zu bekommen. Aber es fehlt die innere Logik. Eine Konzentration auf weniger Maßnahmen, die dann aber langfristiger angelegt sind, wäre sinnvoller gewesen.

Die Regierung mahnt außerdem zum Verzicht und möchte Werbung für das Energiesparen machen. Ist eine solche Forderung für Geringverdienende nicht zynisch?

Das würde ich nicht sagen. Auch in armen Haushalten gibt es Potenzial für Energieersparnisse, das wissen wir aus dem Caritas Stromspar-Check Projekt. . Das Projekt unterstützt Menschen mit niedrigen Einkommen beim Stromsparen sowie bei der Anschaffung energieeffizienter Geräte. Wir stellen immer wieder fest: Auch in ärmeren Familien ist es nicht unüblich, dass das Fenster den ganzen Tag gekippt bleibt, obwohl die Heizung an ist. Es ist äußerst schade, dass das Entlastungspaket nicht ausdrücklicher auf den Stromspar-Check Bezug nimmt. Es läuft wahrscheinlich darauf hinaus, dass jetzt ein paar Plakate mit Energiesparslogans gedruckt werden.

Was ist gut am Maßnahmenpaket?

Ich begrüße ausdrücklich, dass sich die Regierung das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vornehmen will. Steigende Weltmarktpreise werden von den Energieunternehmen unverzüglich und nicht selten überschießend an die Endverbraucher weitergegeben. Bei sinkenden Preisen sieht das ganz anders aus. Gut, dass die Regierung die Möglichkeiten des Bundeskartellamts stärken will. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, die Gewinnmitnahmen der Unternehmen zu begrenzen.

Mit Blick auf den Klimawandel sind sich alle einig, dass fossile Energien teurer werden müssen. Wie kann die Politik den Menschen klar machen, dass eine Umstellung unserer Lebensgewohnheiten alternativlos ist und sie beim Wandel unterstützen?

Der Ukrainekrieg hat eine ähnliche Wirkung in Bezug auf den Klimaschutz wie die Pandemie in Bezug auf die Digitalisierung: Beide treiben eine Entwicklung, die in die richtige Richtung geht, so abrupt und radikal voran, dass die Schwächsten auf der Strecke bleiben. Steigende Dieselpreise sind für Menschen in einem Vorort ohne ÖPNV-Anbindung das, was das Homeschooling für Kinder armer Eltern ohne eigenen Laptop war: ein brutaler Schock. Eine planvolle Klimapolitik muss die Steigerung der Preise fossiler Brennstoffe mit einem Klimageld verbinden, das gewährleistet, das alle mitkommen. Der gegenwärtige Preisschock führt nicht dazu, dass ab morgen alle Sozialwohnungen eine bessere Dämmung haben oder der ÖPNV flächendeckend ausgebaut ist. Ich mache mir daher Sorgen, dass die hochschnellenden Energiekosten, dazu führen könnten, dass die gewachsene Zustimmung zum Klimaschutz wieder abnimmt. Das wäre fatal – denn eine ungebremste Klimakrise belastet vor allem die Armen, national ebenso wie international.

Interview: Andreas Kaiser