Vorstellung der Studie „Wissen teilen – Hildesheim“

Es wurde vertuscht und versetzt

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Täter wurden geschützt und Opfer ignoriert – so wurde in der Amtszeit von Bischof Heinrich Maria Janssen mit sexuellem Missbrauch im Bistum Hildesheim umgegangen.


Stellen die 400 Seiten umfassende Studie „Wissen
teilen – Hildesheim“ zu sexualisierter Gewalt im
Bistum in der Amtszeit von Bischof Heinrich Maria
Janssen (1957 bis 1982) vor: (von links) Florian Strauß,
Kurt Schrimm, Antje Niewisch-Lennartz, Gerhard
Hackenschmied und Peter Caspari.

Sexueller Missbrauch durch Priester wurde in der Amtszeit von Bischof Heinrich Maria Janssen (1957–1982) regelmäßig vertuscht und verschwiegen. Täter mussten kaum Konsequenzen fürchten, während Opfer in der Perspektive der Bistumsleitung nicht vorkamen. Beweise für die – zeitweise vermutete – Existenz eines Täternetzwerkes im Bistum Hildesheim gibt es hingegen nicht.  

Das sind wesentliche Ergebnisse einer Studie, die die Expertengruppe zum Projekt „Wissen Teilen“ am Dienstag dieser Woche vorgestellt hat. Die Experten haben seit 2019 Gespräche mit Betroffenen und Zeitzeugen geführt, Akten ausgewertet und eine Befragung unter ehemaligen und heutigen Mitarbeitern des Bistums durchgeführt. Auf mehr als 400 Seiten haben sie jetzt die Ergebnisse ihrer Arbeit vorgelegt.

Das Ansehen der Kirche sollte keinen Schaden nehmen

Immer wieder wurden Täter, selbst wenn sie zu Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, in andere Gemeinden versetzt – und konnten so weitere Missbrauchstaten begehen. Dabei erhielten Priester nicht nur innerhalb des Bistums eine neue Anstellung, sondern wurden deutschlandweit versetzt, im Einzelfall sogar bis nach Lateinamerika. Wie die Gutachter ausführen, ging es dabei darum, sowohl die Täter vor Strafverfolgung zu schützen, als auch dem Ansehen der Kirche keinen Schaden zuzufügen. Die Missbrauchstaten ereigneten sich oft über viele Jahre, zum Teil über Jahrzehnte. Bei verurteilten Priestern setzte sich Bischof Janssen für eine frühzeitige Haftentlassung ein, außerdem gab es für sie finanzielle Unterstützung.

Die Personalakten aus dieser Zeit zeigen laut Bericht gravierende Mängel, eine inhaltliche Ordnung sei nicht erkennbar. „Es kann nicht bewiesen werden, dass die Lückenhaftigkeit der Personal­akten auf eine absichtliche Manipulation zurückzuführen ist. Eine Vielzahl von Indizien spricht allerdings für eine gezielte ‘Aufbereitung’“, heißt es in dem Gutachten.

Ein besonderes Augenmerk legt die Expertengruppe auf den Bernwardshof, ein ehemaliges Kinderheim in Hildesheim-Himmelsthür, das von den Vinzentinerinnen geleitet wurde. Ein ehemaliges Heimkind hatte berichtet, vom damaligen Leiter der Einrichtung Bischof Janssen „zugeführt“ worden zu sein. Das führte damals zu der Vermutung, dass es im Bistum möglicherweise ein „Täternetzwerk“ gegeben habe – dafür fanden sich allerdings keine Beweise. Lediglich in einem Fall habe ein Betroffener davon berichtet, nicht nur durch einen Priester, sondern durch dessen Vermittlung durch weitere Personen missbraucht worden zu sein. Dieser Vorfall hat sich aber nicht in Hildesheim ereignet. Auch die Tatsache, dass es im Umfeld des Hildesheimer Domhofes insgesamt acht Tatverdächtige gegeben habe, lasse nicht den zwingenden Schluss auf ein Missbrauchsnetzwerk zu, erklären die Gutachter. Zu diesem Fall gab es keine weiteren Erkenntnisse, allerdings wurden in Gesprächen gegen eine Vielzahl von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Bernwardshofes Vorwürfe erhoben, sowohl wegen übermäßigen Prügelns als auch wegen schweren sexuellen Missbrauchs. Weitere Hinweise berichten von „Vermietungen“ von Heimkindern. Aus einer anderen Quelle wurde berichtet, dass Jungen aus dem Bernwardshof abends nach Hildesheim ins Albertinum, eine Heimschule, gebracht worden seien. Das Albertinum ist baulich mit dem Bischofshaus verbunden. Belege für einen sexuellen Missbrauch in diesem Zusammenhang liefert der Bericht allerdings nicht. Die Hinweise hätten wegen einer „Limitierung des Untersuchungsauftrages“ nicht weiter aufgeklärt werden können.  

Das Täterspektrum sei vielfältig gewesen

Neben dem Bernwardshof werden aus fünf weiteren Einrichtungen schwere Übergriffe auf Kinder berichtet. „In der Zusammenschau wird deutlich, dass es sich keineswegs um Einzelfälle handelt, sondern um Symptome einer Praxis der Heimerziehung, die nicht nur mit brutaler körperlicher Gewalt arbeitete, sondern die in vielen Fällen auch die sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Jungen umfasste“, heißt es in der Untersuchung. Dabei sei das Täterspektrum wesentlich vielfältiger als im gemeindlichen Zusammenhang. Neben männlichen Klerikern hätten auch Ordensschwestern und weltliche Erzieher und Erzieherinnen Kindern sexualisierte Gewalt zugefügt.

„Insgesamt zeigt sich ein umfassendes Bild erzieherischer Verantwortungslosigkeit, das vom Bistum Hildesheim in Person von Heinrich Maria Janssen über Jahrzehnte hinweg geduldet und mitgetragen wurde“, heißt es in der Untersuchung.
Die damaligen Vorgänge seien von Bischof Janssen zu verantworten gewesen, heißt es dort. Dass es keine genaueren Erkenntnisse gebe, sei aber auch durch seine Nachfolger zu verantworten, denn sie hätten sich nicht aktiv für eine eventuell noch rechtzeitige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bereich des Bistums Hildesheim eingesetzt: Vor allem Bischof Josef Homeyer habe es zu verantworten, dass es keine weiteren Zeugen – mehr – gibt, die Bischof Janssen und andere post mortem belasten könnten.

Vorwürfe konnten nicht entkräftet werden

Die Expertengruppe äußert sich auch zu den bereits bekannten Vorwürfen gegenüber Bischof Janssen. Die bisher bekannten Anschuldigungen werden in dem Gutachten differenzierter betrachtet als in der Vergangenheit. Ein Messdiener hatte 2015 Im „Spiegel“ den Vorwurf erhoben, zwischen 1958 und 1963 immer wieder von Janssen schwer missbraucht worden zu sein, das Bistum hatte ihm eine Zahlung in Anerkennung des Leids bewilligt und erklärt, die Behauptungen des Mannes seien plausibel. Später meldete sich ein zweiter Betroffener, der im Bernwardshof lebte.

Die Experten kommen zu dem Schluss, dass die Vorwürfe gegen Bischof Heinrich Maria Janssen nicht durch ihre Untersuchungen entkräftet werden konnten. Allerdings seien auch im Rahmen der Untersuchung keine neuen Fälle bekanntgeworden. Schuldig habe sich der Bischof aber nachweislich durch die Praxis von Versetzen, Verschweigen und Vertuschen gemacht.

Bereits vor einigen Monaten hat Bischof Heiner Wilmer angekündigt, die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs auf die Amtszeiten der Bischöfe Josef Homeyer und Norbert Trelle und seine eigene Amtszeit auszudehnen. Dies wurde bei der Vorstellung der Studie noch einmal bekräftigt

Der komplette Bericht: www.bistum-hildesheim.de/aufarbeitung-missbrauch
In der kommenden Ausgabe: Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung

Matthias Bode

 

Schweres Versagen


Matthias Bode, Chefredakteur

Nach dem Lesen des Berichts zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Zeit von Bischof Heinrich Maria Janssen muss man erst mal tief durchatmen. Die geschilderten Vorgänge sind bedrückend.

Überraschend sind die Ergebnisse hingegen nicht. Wer in den letzten Jahren verschiedene Untersuchungen im Bistum Hildesheim und in anderen deutschen Diözesen zum Thema Missbrauch verfolgt hat, konnte damit rechnen. Es zeigt sich ein Muster: Neben persönlichem Versagen von hohen Würdenträgern gab und gibt es erhebliche strukturelle Mängel. Das Ansehen der Kirche stand viele Jahrzehnte vor Aufklärung von Straftaten und der Hilfe für die Betroffenen. Hinzu kommt die Überhöhung des Priesterbildes und eine rigide Sexualmoral, die dazu beigetragen hat, dass die Taten stattfinden konnten und nicht öffentlich wurden.  Bischof Heiner Wilmer fordert jetzt folgerichtig eine umfangreiche Reform der kirchlichen Sexuallehre.

Bischof Wilmer hat angekündigt, den Untersuchungsauftrag auch auf die Zeit nach Bischof Janssen auszudehnen. Das heißt, dass nun auch die Amtszeiten der Bischöfe Josef Ho­meyer und Norbert Trelle sowie seine eigene unter die Lupe genommen werden.  Damit kommen auch zwei noch lebende Bischöfe in den Blick.  Man wird sie nach ihrer Rolle befragen können – und vielleicht müssen.

Weitergehen sollten auch die Untersuchungen für die Janssen-Amtszeit. In manchen Punkten bleibt der vorliegende Bericht bei Andeutungen stehen. Sicher ist Aufklärung nach Jahrzehnten schwierig, doch es wäre unbefriedigend, wenn Hinweisen auf schwerwiegende Vorkommnisse nicht weiter nachgegangen würde.

Ein Letztes: Der Bericht listet akribisch die einzelnen Missbrauchstaten auf. Die Täter wie auch diejenigen, die das Geschehen durch Wegschauen und aktives Vertuschen mitermöglicht haben, bleiben bis auf Bischof Janssen selbst in der Anonymität. Es wird Zeit, den Verantwortlichkeiten auch Verantwortungsträger zuzuordnen. Das ist man den Betroffenen schuldig.