Vom kirchenfernen Diskothekenbetreiber zum Priester
„Frag Gott, was er von dir will“
Foto: Wolfgang Maas
„Hätte mir vor 20 Jahren jemand gesagt, dass ich heute als Priester in Dortmund unterwegs bin, dann hätte ich gesagt: Du hast sie nicht mehr alle!“ Oliver Schütte muss schmunzeln, als er das sagt. Denn genauso ist es gekommen und der Geistliche lässt keinen Zweifel daran: Es ist genau richtig so, wie es ist.
Der 53-Jährige stammt aus Erwitte zwischen Paderborn und dem Ruhrgebiet. „Was für mich sehr prägend war, war der frühe Tod meines Vaters. Er ist gestorben, da war ich vier Jahre alt, relativ überraschend, vier Tage vor Weihnachten. Meine Mutter war mit 27 Jahren Witwe mit drei Kindern. Ich war der Älteste. Und ich habe meiner Mutter bei der Beerdigung gesagt: ‚Mama, hör auf zu weinen, jetzt bin ich der Mann im Haus.‘“ Ganz schnell wollte er die Schule beenden und viel Geld verdienen, am liebsten als Bundeskanzler – so seine Vorstellung. Er fühlte sich verantwortlich, solange, bis sich seine Mutter in einen anderen Mann verliebte.
Ab Beginn der Pubertät „war ich pauschal gegen alles. So war das Anfang der 1980er Jahre – entweder war man dafür oder dagegen“. Was aber immer geblieben sei, war die soziale Verantwortung. So beteiligte er sich am ersten Schülerstreik an seinem Gymnasium. Auch an den Ostermärschen nahm er teil.
Zudem war und ist der heutige Vikar geschichtlich sehr interessiert. Was geschah während des Holocausts, wie konnte das passieren? Was tat die eigene Familie damals? „Ich fühlte mich schuldig.“ Und das, obwohl Schütte viel später geboren wurde. Das änderte sich erst Jahre später nach einem Besuch in Auschwitz.
Wir haben schon viel gefeiert. Da wäre ich auch beinahe weggekippt.
Schütte blieb jemand, der anpackte, aber auch sein Leben genoss. „Wir haben schon viel gefeiert. Da wäre ich auch beinahe weggekippt, um es mal salopp auszudrücken“, sagt er. Doch das passierte nicht, dank seines Stiefvaters. „Er sagte: ‚Du bist nicht dumm. Mach die Schule zu Ende und dann gucken wir mal, was du machst.‘“ Das Ende der Schule kam – aber nicht die Idee, was danach geschehen soll. Es folgte für den Jungen aus einer Arbeiterfamilie eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. „Das war toll. Ich hätte auch bleiben können. Doch es war gewünscht vonseiten meiner Mutter, dass ich studiere.“ Schütte schrieb sich für Betriebswirtschaftslehre ein. „Das war schrecklich.“
Es folgten ein paar Monate, in denen der heutige Vikar auf dem Bau arbeitete, dann wechselte er zum Studienfach Geschichte. Parallel jobbte er in einer Kneipe. Deren Chef wollte in Lippstadt eine neue Diskothek eröffnen und suchte einen Geschäftspartner. Oliver Schütte, der ja kaufmännisches Wissen hatte, schlug ein. „Meine Eltern waren hellauf begeistert“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Vier Jahre dauerte das Engagement, das sich finanziell sehr lohnte, aber auch zweifelhafte Freunde mit sich brachte. Später arbeitete Schütte als EDV-Experte – bis zu seinem Eintritt ins Priesterseminar.
„Bis dahin war mit Kirche nichts.“ Einen klassischen Weg – Messdiener, Pfadfinder, Gruppenleiter – sei er nicht gegangen. Vielmehr spielte Kirche für ihn sehr lange keine Rolle, bis zum Weltjugendtag 2005. Da er bereits Jugendfreizeiten geleitet hatte, wurde er gebeten, eine lokale Gruppe zu unterstützen. In Köln merkte er: „Es sind viele Menschen, die Kirche begeistert, und Kirche kann jung sein.“ Rückblickend sei die Veranstaltung „ein frommes Rock am Ring“ gewesen, sagt er.
Dort wurde mir das geschenkt, was mein ganzes Leben veränderte.
Es folgte eine Reise nach Rom. Während eines Gottesdienstes dort spürte Schütte: „Das bedeutet den Menschen etwas, da passiert etwas mit ihnen. Ich habe das aber nicht verstanden, keine Chance.“
2007 fühlte sich Schütte ausgepowert und ging in die Abtei Königsmünster im sauerländischen Meschede. „Dort wurde mir das geschenkt, was mein ganzes Leben veränderte. Mit einem Mal sagte eine Stimme zu mir: ‚Was willst du hier? Was willst du von mir?‘“ Schütte fragte sich: Rächt sich jetzt mein bisheriges Leben? Doch er folgte der Stimme. „Es gab nur Olli und Jesus in diesem Moment.“ Was andere von diesem Erlebnis halten, interessierte ihn nicht.
Schütte sagt: „Ich war richtig verliebt. Und mit einem Mal wollte ich mehr wissen.“ Der Priester, mit dem er seit dem Weltjugendtag Kontakt hatte, sagte zu ihm: „Das macht Jesus manchmal. Bring die Bibel mit und lerne ihn kennen.“ Doch Schütte hatte gar keine Bibel.
Er ging in Exerzitien. „Frag Gott, was er von dir will“, gab ihm sein heutiger geistlicher Begleiter mit auf den Weg. Schütte kündigte und studierte schließlich in Paderborn Theologie. Leicht war das nicht. „Meine Mitbrüder waren halb so alt wie ich und wussten alles. Ich wusste gar nichts.“ Doch er hielt durch. „Die Motivation war klar: Er will, dass ich Priester werde.“ Auch jetzt fühlt Schütte sich, mit fast 54 Jahren, jungen Gläubigen näher. „Da ich ja kirchenfern aufgewachsen bin, habe ich die Kenntnisse von 18-Jährigen.“
Heute hat er je eine halbe Stelle im Pastoralen Raum Dortmund Nordost und als Wohnungslosenseelsorger. Dass die benötigt wird, steht für ihn fest. „Es werden immer mehr Obdachlose in Dortmund.“
Wie es nach seiner Zeit als Vikar weitergeht, weiß er noch nicht. „Ich möchte mit Haut und Haaren die Frohe Botschaft verkünden. Mein Wunsch ist es, dass zumindest einmal im Gottesdienst ein Lächeln losgeht.“
Zur Sache
Vikar Oliver Schütte (53) ist einer der Ansprechpartner für die katholische Obdachlosenhilfe und Obdachlosenseelsorge im Dekanat Dortmund. Er und seine Kollegen sehen ihre Arbeit als unaufdringliches Angebot für Menschen in Not.