In Oświęcim mit Pax Christi

Freiwillig? Freiwillig!

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Stephan Kumpf hat sich für ein Freiwilligenjahr mit Pax Christi entschieden. Er arbeitet im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim. In der polnischen Stadt hatten die Deutschen das Vernichtungslager Auschwitz errichtet. – Von Ruth Lehnen

Es fängt immer schon mit dem Namen an. Stephan Kumpf macht ein Freiwilligenjahr in Auschwitz, heißt es hierzulande, ein Satz, der vielfältige Reaktionen auslöst. Sehr gut, bewundernswert. Oder: Warum tut er sich das an? In Polen würde es heißen: Stephan Kumpf macht ein Freiwilligenjahr in Oświęcim. So heißt die kleine polnische Stadt, in der auch das Vernichtungslager der Nazis gewesen ist. Aber Oświęcim ist mehr als das Lager.  
Das hat Stephan Kumpf gleich am ersten Tag erfahren. Nach seiner Ankunft war er als erstes  zum Marktplatz gelaufen, gespannt, was ihn erwarten würde. Ein Mahnmal an die Vergangenheit? Eine große Statue? Nichts von alledem: Was er als erstes sah, waren spielende Kinder und lachende Bewohner der Stadt. „Ich war etwas perplex“, sagt der 19 Jahre junge Mann: „Ich hatte mir einen Ort der Trauer vorgestellt, aber was ich vorfand, war Leben.“  

Jetzt ist er dabei, Polnisch zu lernen

In dieser Spannung steht sein Freiwilligenjahr im Zentrum für Dialog und Gebet. Der Rheinhesse aus Siefersheim ist über Pax Christi nach Oświęcim gekommen, wo er Besucher aus aller Welt empfängt, die den Weg dorthin trotz der Pandemie finden, wo er im Büro, in der Bibliothek, der Rezeption oder im Speisesaal hilft. Wo er bei Besuchen im Stammlager und im KZ Auschwitz-Birkenau versucht, sich dem Grauen dieser Orte zu stellen: Die Nazis ermordeten hier anderthalb Millionen Menschen durch Ausbeutung, durch Folter und Erschießungen, durch das Gas.  
Im Lernen und in der Auseinandersetzung mit der Geschichte helfen ihm die Gespräche mit den Einwohnern von Oświęcim.   Sie leben ständig in der Spannung zwischen den Zeugnissen des Holocausts und dem normalen Leben einer 40 000 Einwohner-Stadt im 21. Jahrhundert. Stephan formuliert es so: Die Einwohner von Oświęcim wollten sich nicht von der Vergangenheit vereinnahmen lassen. Sie wollten sich nicht verstecken, sondern zeigen, und damit den Opfern, die an diesem Ort starben, Respekt zollen.     
Am Anfang hat der Freiwillige die Lebendigkeit der polnischen Stadt als etwas Unnatürliches oder sogar Pietätloses gesehen, aber das hat sich gewandelt. An einem Ort der Trauer sollen auch Lebendigkeit und Freude nicht ausgeschlossen werden, meint er: Sie zeugen von Stärke und Hoffnung, dass das Leben an diesem Ort nicht aufgehört hat.  
Stephan Kumpf interessiert sich sehr für Geschichte, war im Geschichtsleistungskurs und ist allgemein wissbegierig: Er hat drei Jahre Russisch gelernt, was ihm jetzt mit dem Polnischen hilft, das er ebenfalls gern erlernen will. Er mag Herausforderungen: „Selbst kleine Gespräche auf Polnisch können eine große Hürde sein.“

Rampe in Auschwitz
Gedenken an das Grauen in Auschwitz-Birkenau Foto: Stephan Kumpf

Besonders oft denkt er an ein Gespräch mit der Zeitzeugin Zdzislawa Wlodarczyk, die als Kind im Stammlager Auschwitz war. Er wollte von ihr wissen, ob die unschuldige Wahrnehmung eines Kindes sie beschützt habe vor den realen Grausamkeiten. Die Antwort war klar und hart: Wlodarczyk  sagte,  ihr  Überlebensinstinkt habe übernommen, ihre ganze Menschlichkeit sei ihr damals entrissen worden.  

Die Burgen in Kleinpolen entdecken

Stephan befasst sich mit der deutschen Geschichte, aber er ist auch interessiert an der polnischen. Kleinpolen – übrigens keineswegs klein, sondern riesig – ist die Region, zu der Oświęcim gehört. Sie ist reich an Burgen, und die Bewohner seien stolz auf diese Zeugnisse der Vergangenheit, berichtet der Siefersheimer: So wie die Burgen stehenblieben, so ist Polen standhaft geblieben und ließ sich weder durch Eroberungen noch durch Teilungen in die Knie zwingen. Der Gedanke gefällt Stephan, der sich kurzerhand vorgenommen hat, jede einzelne Burg in Kleinpolen zu erkunden. Oben auf den Burgen zu stehen und sich die Landschaft anzuschauen – das ist sein Plan, der jetzt allerdings durch eine Coronaerkrankung wochenlang durchkreuzt wurde.  
Aber Stephan hat ja noch Zeit. Er will bis August in Oświęcim  bleiben. Er denkt, dass es Zeit braucht, zu verstehen, was in Auschwitz geschah und was Auschwitz bedeutet. Auch religiös gesehen wirft sein neuer Wohnort viele Fragen auf. Er sagt: „Ich habe eine enge Bindung zur Kirche. Mir persönlich gibt sie den Halt, den ich brauche.“ In Auschwitz sei aber „das Theodizeeproblem unausweichlich“ – die Frage, warum Gott das Leid zulässt. Darüber hat er mit seinem Heimatpfarrer Harald Todisco gesprochen, aber er möchte auch die Ansichten vieler weiterer Menschen dazu hören.  
 

Oft beschäftigen ihn ganz praktische Aufgaben. Im Oktober hat er mit anderen Freiwilligen auf dem Platz der alten Synagoge Blumenzwiebeln gepflanzt, die im Frühjahr blühen sollen. Umgraben und Einpflanzen hat die Freiwilligen enger zusammengebracht. Sie hätten das Gefühl gehabt, erzählt Stephan, der Last der Grausamkeit etwas entgegenzusetzen und etwas Ehrendes und Hoffnungsvolles im Andenken an die ehemalige jüdische Bevölkerung zu tun.  
Stephan wollte Oświęcim/ Auschwitz mit eigenen Augen sehen und selbst erleben. Weder der harte polnische Winter noch die Corona-Erkrankung haben seine Meinung geändert: „Ich bin froh, dass ich mich hierfür entschieden habe.“

Infos zum Freiwilligendienst in Oświęcim per E-Mail: friedensdienste@pax-christi-aachen.de

Tag des Gedenkens
  • Auschwitz steht für den Massenmord der Nazis an Juden und anderen Verfolgten. Der Tag der Befreiung der Gefangenen durch die Rote Armee, 27. Januar, ist heute ein Gedenktag. 2022 jährt sich die Befreiung zum 77. Mal.
  • Zur Einführung des Gedenktags sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“
  • Das Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim entstand im Jahr 1992 als Einrichtung des Erzbistums Krakau in Absprache mit Vertretern jüdischer Organisationen. Es hilft, die Opfer zu ehren und für eine Welt einzutreten, die das Gegenteil von dem ist, was Auschwitz war.
Ruth Lehnen