Das "Ethik-Eck"

Gastfreundschaft: Wie weit soll sie gehen?

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Die Frage lautet diesmal: „Über Weihnachten will die Schwiegermutter mal wieder zwei Wochen kommen. Gastfreundschaft! Mir fällt das schwer. Ich habe das Gefühl, es geht über meine Kräfte. Was kann ich tun?“


Kompromiss finden
Im Blick auf die Schwiegermutter vor der Tür, zusammen mit der Aussage der Gastgeberin, dass es ihr eigentlich zu viel wird, dieselbe 14 Tage zu beherbergen, fällt mir als erstes ein Grundsatz aus dem Kirchenrecht ein, der auch eine wichtige ethische Richtlinie bietet: „Niemand kann zu etwas angehalten sein, das über das hinausgeht, was er oder sie zu tun vermag.“ Ethisches Handeln erstreckt sich notwendigerweise auf einen realen Handlungsspielraum.
Nun bietet dieser Grundsatz im Blick auf den Besuch der Schwiegermutter kein hartes Kriterium, weil die Schwiegertochter grundsätzlich in der Lage ist, diese zu beherbergen. Ein weiches Kriterium aber sehr wohl, denn wenn es ernstlich über ihre Kräfte geht, kann man zu Recht fragen: Ist sie dazu in der Lage? Nicht nur materiell, sondern auch nervlich, seelisch? Und wer sagt eigentlich, dass sie die Schwiegermutter 14 Tage beherbergen muss?


Schwester Igna Kramp gehört der
Congregatio Jesu (Maria-Ward-
Schwestern) an und leitet im Bistum
Fulda den Entwicklungsbereich
Geistliche Prozessbegleitung.

Das Evangelium fordert ja eher zum Verlassen der Familie als zur Pflege ihrer Bande auf, weil derjenige, der sich Christus anschließt, der „neuen“ Familie derer angehört, die den Willen Gottes tun (Markus 3,35). Vielleicht wollen das manche Leute nicht gern hören, schon gar nicht zu Weihnachten, aber: Ein Familienmensch war Jesus nicht (Markus 3,20f; Lk 11,28). Das Evangelium wertet unsere bürgerlichen Werte vielmehr radikal um. Das entpflichtet nicht von der Nächstenliebe auch denjenigen gegenüber, die unsere Verwandten sind, aber die Liebe ist, wie Ignatius von Loyola in den Exerzitien schreibt, „die Mitteilung von beiden Seiten her, so dass immer einer dem anderen gibt, was er hat oder kann, und so auch umgekehrt“.
Auch die Schwiegermutter ist zur Nächstenliebe verpflichtet, und es sollte dazugehören zu sehen, dass die Schwiegertochter mit 14 Tagen Besuch überlastet ist. Dazu, dass die Schwiegermutter das überhaupt wahrnehmen kann, hilft eine Ich-Botschaft der Schwiegertochter, die Wertschätzung und Grenzen in einem aufzeigt, zum Beispiel: „Ich habe Dich wirklich gern, aber 14 Tage Besuch werden mir zu viel.“
Darüber hinaus wäre ein Kompromissvorschlag hilfreich, etwa: „Wie wäre es denn, Du kommst nur direkt über die Feiertage, da habe ich frei, und dann verbringen wir intensiv Zeit miteinander?“ Kompromiss ist der Ernstfall der Ethik. Auch an Weihnachten.

Ran ans Belastende
Alle Jahre wieder: Weihnachten; alle Jahre wieder vertraute Rituale: Wärme, Essen und Familie. Vielleicht auch Baum und Mette und Erinnerung ans Kind in der Krippe. Alle Jahre wieder leider auch ähnliche Konflikte. Welches Geschenk für wen? Haben wir an alles gedacht? Wer kommt, wer nicht? Müssen wir unbedingt …, die Oma würde sich doch so freuen …
In diesem Jahr ist ja alles noch mal komplizierter. Wer ist geimpft, wer getestet, was ist erlaubt, was ist vernünftig. Wieviel Platz haben wir?
Weihnachten ist für viele neben dem Erwünschten auch ein großes Muss. Beides – ein Sehnsuchtsort und ein Stresstest.
Es gibt Traditionen, fast in jeder Familie. Und Traditionen haben ja ihren guten Sinn, warme Erinnerungen sind damit verbunden, oft sogar ein Stück Kindheit. Sie drücken auch eine Sehnsucht aus, wenigstens an Weihnachten wollen wir zusammenkommen und es gut miteinander haben oder es zumindest miteinander aushalten. Spüren, dass wir doch zusammengehören. Eine Familie sind, Freunde. Ein bisschen Frieden und Zuversicht spüren. Doch hoffen, dass es ein bisschen heller wird.


Ruth Bornhofen-Wentzel war Leiterin der
Ehe- und Sexualberatung im Haus der
Volksarbeit in Frankfurt

Für dieses Gefühl ist es wichtig, dass die Kinder nach Hause kommen und Oma und Opa an diesen Tagen nicht alleine sitzen. Die Spannungen sollen verschwinden, es soll mal kein Gemecker und Gestreite geben.
Dann geht man mal schnell darüber hinweg, dass es unterschiedliche Erwartungen und Wünsche gibt. Leider haben es Spannungen und Konflikte an sich, dass sie sich gerade dann melden, wenn man sie weghaben will.
Also: Ran an das, was belas-tet.
Schwierig sind festgefahrene Vorstellungen und Forderun-gen, die anderen Druck machen. Müssen es 14 Tage sein? Muss es so geballt an Weihnachten sein?
Also wenn es über die Kräfte geht: Dann lässt sich auch sagen, ich glaube, das schaffe ich nicht so gut. Könnten wir was anders machen? Und nachfragen: Was stellt sich die Schwiegermutter genau vor? Phantasie ist gefragt und ausloten, was gut geht. Wer kann was mit wem unternehmen? Welche Ideen haben Tochter und Enkel? Was lässt sich verschieben, wer traut sich was zu und hat an was Freude?
Und dass man sich dann einigt auf das, mit dem alle gut leben können. Es darf auch was Neues sein. Es darf probiert werden. Auch Traditionen beginnen mal.
In Pandemiezeiten gilt erst recht, dass es wichtig ist, zu besprechen, wer braucht was, um sich unbeschwert und sicher zu fühlen.
Und so ein Gespräch hilft auch der Beziehung nach Weihnachten. Auch dann gibt es ja Wünsche und Erwartungen. Dann haben alle schon mal geübt.
Also: fröhliche Weihnachten!

Im Gespräch klären
Gastfreundschaft ist eine alte Tugend, die in der Bibel einen hohen sittlichen Stellenwert besitzt. Die Beherbergung von Fremden ist Teil des Ethos Israels. Gott selbst wird als Gastgeber vorgestellt, der sich großzügig und voller Wohlwollen um die Menschen sorgt.
Jesus gewährt Gastfreundschaft und nimmt sie in Anspruch.
Schon von alters her ist aber auch klar, dass Gastfreundschaft eine Beziehung herstellt, die beide Seiten in die Pflicht nimmt. Wer einen anderen Menschen in den eigenen Lebensraum lässt, der kann erwarten, dass sich der Gast respektvoll verhält und die gewährte Gastfreundschaft nicht egoistisch ausnutzt. Solche Mahnungen finden sich ebenfalls in der christlichen Tradition. Das bedeutet: Wie sich die Zeit der Gastfreundschaft gut gestalten lässt, ist immer eine Frage, die nicht von einer Seite allein zu beantworten ist; das gilt auch im familiären Kontext.


Stephan Goertz Professor für Moral-
theologie an der Universität Mainz

So allgemein gesprochen, fällt es nicht schwer, etwas über Gastfreundschaft, ihre Bedeutung und ihre Regeln zu schreiben. Doch die Frage in diesem Ethik-Eck ist sehr konkret, sie bezieht sich auf eine klar beschriebene Situation: Die Schwiegermutter hat sich über Weihnachten für zwei Wochen angekündigt und das könnte die Kräfte der Gastgeberin oder des Gastgebers überfordern. Grundsätzlich gilt nach dem Gesagten, dass sich Gastgeber und Gast verständigen sollten, wie der Besuch für die Beteiligten zu einer guten Zeit werden kann, an die sich alle gerne zurückerinnern.
Für das Weitere gilt die ethische Erkenntnis, dass in der Regel die Umstände einer Handlung für deren Beurteilung entscheidend sind. Das heißt für den hier vorliegenden Fall: Welches Maß an Belas-tung mit dem zwei Wochen langen Besuch verbunden ist, das hängt von so vielen Faktoren ab, dass eine eindeutige Antwort auf die Frage hier gar nicht zu geben ist. So wäre etwa zu berücksichtigen: Wie ist die Wohnsituation? Wie viel Zeit wird man miteinander verbringen? Wie selbstständig ist die Schwiegermutter? Wie ist die berufliche, familiäre oder gesundheitliche Situation des Gastgebers? Gibt es andere Verwandte, die auch als Gastgeber in Frage kommen? Wie ist die Lebenssituation der Schwiegermutter: Hat sie viele oder wenige soziale Kontakte? Kann man offen miteinander über die Dauer und Gestaltung des Besuchs sprechen?
Die Ethik kann Gesichtspunkte zusammentragen, die bei der Beantwortung der Frage zu bedenken sind. Dabei erinnert sie daran, dass beide – also Gast und Gastgeber – ihre Interessen artikulieren dürfen. Ein guter Umgang mit der Situation wird nur im gemeinsamen Gespräch der Beteilig-ten herauszufinden sein.