Katholikin engagiert sich gegen Catcalling

Gelebte Nächstenliebe

Image
Straßentext

Die Katholikin Lisanne Richter engagiert sich für Frauen, die sexuell belästigt worden sind. Sie schreibt fiese Sprüche, die sie gehört haben, mit Kreide auf öffentliche Straßen. So stärkt sie die Betroffenen – und macht manche Täter nachdenklich. 

Lisanne Richter erinnert sich noch gut an den Moment, in dem sie verstanden hat, dass bei weitem nicht alle Kinder so religiös erzogen worden waren wie sie selbst. Sie kam damals gerade an eine weiterführende staatliche Schule und wunderte sich, dass nirgendwo Kreuze hingen. Als die Religionslehrerin dann in einer der ersten Stunden ausgerechnet das Gleichnis vom verlorenen Schaf erzählte, konnte Richter nur die Augen verdrehen. An ihrer katholischen Grundschule hatten sie die Geschichte unzählige Male besprochen, Richter kannte sie in- und auswendig. „Wir hatten Tausende Ausmalbilder, auf denen geschrieben stand: ‚Jesus liebt uns‘ oder ‚Jesus ist für uns da‘“, erinnert sie sich.

Richter (25) ist, wie sie sagt, „typisch katholisch“ aufgewachsen. Schon ihre Krabbelgruppe hat die Kirche besucht. Bis heute prägt der Glaube ihr Leben: Sie geht jede Woche in den Gottesdienst, beichtet regelmäßig, betet täglich und gibt in ihrer Gemeinde in Hannover als Katechetin Erstkommunion- und Firm-unterricht. Sie lebt ihre christliche Identität in einer Intensität, die bei Menschen in ihrem Alter heute selten ist. Für Richter gehört der Glaube ganz selbstverständlich zu ihrem Leben. So selbstverständlich, dass alles, was sie tut, irgendwie damit zusammenhängt. 

Auch ihr Engagement bei den #catcallsofhannover. Unter Catcalling versteht man sexuelle Belästigung ohne Körperkontakt, daher der Name des Projekts. Es kommt ursprünglich aus New York und hat sich mittlerweile in unzählige Städte weltweit verbreitet; Richter hat es in Hannover etabliert. Die Idee dahinter: Frauen können in einer Nachricht auf Instagram an die Projekt-Initiatorinnen von verbaler sexueller Belästigung erzählen, die sie erlebt haben. Die Gruppe von #catcallsofhannover zieht dann mit bunter Straßenkreide los und schreibt diese belästigenden Sprüche auf öffentliche Straßen. Sie reichen von „geiler Arsch“ bis zu „Hi Süße, was geht, willst du f*cken?“. 

Oft berichten Betroffene, dass ihnen im Moment der Belästigung niemand geholfen habe, etwa in einer Bahn voller Menschen. „Das finde ich echt immer traurig“, sagt Richter. Sie und ihre Mitstreiterinnen hören den Frauen zu. Sie sagen ihnen, dass ihre Erfahrung glaubwürdig ist – und dass sie damit nicht allein sind. Für Richter ist das „gelebte Nächstenliebe“. 

Sie hat selbst erlebt, wie verstörend eine Belästigung sein kann. Vor drei Jahren fuhr sie nachts mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause, als ihr eine Gruppe Männer hinterherpfiff – und sagte, sie solle stehenbleiben. Richter hat es so sauer gemacht, „dass die mir solche Angst machen können“, dass sie in New York anfragte, ob sie das Projekt auch in Hannover beginnen dürfe. 

Kurz darauf zog sie mit Straßenmalkreide los und malte in großen, bunten Buchstaben ihre Erfahrungen auf den Boden. Schon beim zweiten Spruch wurde sie von zwei Frauen angesprochen und gefragt, was sie da mache. Richter erklärte es. Sie sagten, so erinnert sie sich: „Ach ja, das passiert uns auch ganz oft. Hier, willst du das auch aufschreiben?“ Am Ende ihres ersten Tages hatte Richter zehn verschiedene Catcalls auf die Straßen Hannovers gemalt „und von denen waren nicht einmal fünf von mir“, sagt sie. 

Heute folgen dem Instagram-Account in Hannover 18 500 Menschen. Ein wichtiges Signal, denn Catcalling kann ernsthafte Folgen haben. Richter erzählt von Studien, die es mittlerweile zu diesem Thema gebe und die zeigten: „Die häufigsten Gefühle, die Catcalling auslöst, sind Wut, Angst und Anspannung. Teilweise können aber sogar Depressionen die Folge sein.“ 

„Mir war gar nicht klar, dass das so viel auslöst“

Für Betroffene ist die Aufmerksamkeit, die ihre Erzählungen über den Instagram-Kanal bekommen, wichtig. Die Fotos von den Kreidesprüchen werden auch dort veröffentlicht. „Es gibt immer ein sehr warmes Feedback von Leuten, die sich dadurch wirklich bestärkt fühlen und denen das guttut“, sagt Richter. 

Auch von Tätern hat sie schon Reaktionen bekommen. „Hey, ich habe das gelesen und mir war gar nicht klar, dass das so viel auslöst. Ich werde das jetzt nicht mehr machen“, hieß es beispielsweise. Auf dem Account versuchen die Aktivistinnen, das Thema möglichst neutral zu besprechen und gegenüber allen freundlich zu bleiben – auch gegenüber denen, die sie online beleidigt haben. „Vielleicht ist das auch ein bisschen gelebte Feindesliebe, aber ich will mich nicht zu sehr selbst loben“, sagt Richter und schmunzelt.  

Ob sie sich als Feministin bezeichnen würde? Richter zögert keine Sekunde und sagt: „Ja.“ Und wie passt das zusammen: ihr Engagement für diskriminierte Frauen und ihr tiefer Glaube, den sie in einer Institution lebt, in der Frauen noch immer nicht gleichberechtigt sind? Die Frauenfrage, findet Richter, dürfte sich eigentlich gar nicht stellen. „Es ist für mich etwas sehr Christliches, Geschlechtergerechtigkeit zu wollen – auch wenn die Kirche darin selbst sehr schlecht ist“, sagt sie. Sie selbst aber habe das große Glück gehabt, „immer Pastoren zu haben, die sehr gerecht waren oder sind“.

Richtig wütend aber macht Richter ein anderes Thema in der Kirche: das Scheitern des Papiers zur Erneuerung der katholischen Sexualmoral in der jüngsten Synodalversammlung des Synodalen Weges. Dieses Scheitern belastet sie, denn auch sie kennt Menschen, die sich dadurch weiterhin nicht gesehen und anerkannt fühlen können. Überhaupt denkt Richter bei manchen Nachrichten, die sie über die katholische Kirche hört: „Was ist los mit euch? Hat eigentlich einer von euch in den letzten 30 Jahren mal eine Bibel aufgemacht?“ 

Richter ist überzeugt davon, dass Jesus die Kirche so, wie sie heute ist, nicht vorgesehen hat. Aber sie ist eben auch überzeugt davon, dass Jesu Lehre weiterhin richtig und wichtig ist. Deshalb bleibt sie eine engagierte Katholikin.

Von Theresa Brandl