Gebetsschule
Gelernt ist gelernt
Diesen Vorwurf hört man manchmal: Vorformulierte Gebete seien doch nur ein auswendig gelerntes Herunterleiern; man spreche die eingeübten Worte, aber sei in Gedanken ganz woanders. Stimmt das so? Und wenn: Ist es schlimm?
Das Beten in festen Formen ist eine uralte Tradition. Jesus hat sicher regelmäßig, vielleicht täglich, das „Schma Jisrael“ gebetet, das Grundgebet der Juden: „Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.“ Auch manche Psalmen wird er auswendig gekannt haben: „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mit fehlen“ (Psalm 23) oder „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Psalm 22). Und als seine Jünger ihn baten „Lehre uns beten“, formulierte er ein festes Gebet für sie, das wir heute als das Vaterunser kennen.
Selbstverständlich wie das Atmen
Solcherart vorformulierte und oft wiederholte Gebete haben einen hohen Wert. Sie dringen nämlich tief in unser Herz und in unseren Verstand ein, sie werden quasi ein Teil von uns. Um sie zu beten, muss man sich nicht anstrengen, muss man nicht kreativ sein, noch nicht einmal besonders konzentriert. Sie sind wie das Atmen: ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Wenn bei sehr alten oder demenziell erkrankten Menschen nichts mehr geht, dann bleibt oft noch das Vaterunser. Oder das Gegrüßet-seist-du-Maria. Sterbebegleiter berichten davon, dass Menschen ruhiger werden, wenn sie diese Worte sprechen oder auch nur hören. Diese traditionellen und lebenslang vertrauten Gebete verbinden unsere Seele mit Gott, auch und gerade in tiefster Not, wenn uns die eigenen Worte fehlen. So wie bei Jesus am Kreuz.
Dafür allerdings müssen sie eingeübt werden, am besten von klein auf. Das Tischgebet ist ein gutes Beispiel dafür. „Alle guten Gaben, alles was wir haben …“, kennt fast jeder Katholik. Genauso wie: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast …“ Mag sein, dass das langweilig ist, fantasielos, immer dasselbe. Aber das sind „Guten Appetit“ oder „Gute Nacht“ auch – deshalb würde man diese Formeln trotzdem nicht abschaffen.
Denn solche ritualisierten Formeln helfen uns durchs Leben: die einen durch das Leben mit unseren Familien, Freunden oder Kollegen; die anderen durch das Leben mit Gott. Ebenso wenig wie wir uns jeden Tag neu eine originelle Begrüßung für unsere Mitmenschen ausdenken müssen, müssen wir uns jeden Tag eine neue Begrüßung für Gott überlegen.
Und was das Herunterleiern betrifft: Auch das „Guten Morgen“ im Büro wird oft eher gemurmelt als mit vollem Herzen jubiliert – macht aber nichts. Es zeigt trotzdem, dass wir den anderen wahrnehmen, dass wir vielleicht sogar dankbar sind, dass es ihn gibt.
Dankbar sein, dass es Gott gibt, ihn begrüßen: Nichts anderes ist das Kreuzzeichen am frühen Morgen oder am Abend vor dem Einschlafen. Keine große Leistung, sondern eine gute Routine, die uns jeden Tag mit Gott verbindet.
Welche dieser vorformulierten Gebete man übernimmt, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Wer eine große Nähe zur Gottesmutter empfindet, wird vielleicht regelmäßig den Rosenkranz beten – und bei der meditativen Wiederholung des Gegrüßet-seist-du-Maria spüren, wie er oder sie ruhiger wird, Sorgen loslässt und Hoffnung wächst.
Andere beten am Mittag den „Engel des Herrn“ und schaffen so eine kurze Atempause im Alltag. Andere entdecken vielleicht das alte Jesusgebet für sich: „Jesus, dir leb ich, Jesus, dir sterb ich“ oder beten mit dem heiligen Augustinus „Atme in mir, du heiliger Geist“. Oder sprechen am Ende des Tages das Vaterunser.
Ein weiterer Vorteil der altbekannten Gebete: Man kann sie gemeinsam sprechen. In der Eucharistiefeier natürlich, aber auch, wenn sich zwei oder drei – oder mehrere – zusammenfinden, um etwa den Rosenkranz zu beten. Oder ein Totengebet. Gemeinsames Beten als Erfahrung des gemeinsamen Glaubens.
Übung klappt am besten von klein auf
Schade ist, dass heute nur noch wenige Kinder diese Gebete von klein auf einüben. Sicher liegt es auch daran, dass der Alltag hektischer geworden ist, dass alle permanent unterwegs sind und gemeinsame Mahlzeiten und Abendrituale in der Familie seltener sind. Vielleicht kennen Eltern auch zu wenige schöne Kindergebete – und wollen Gebete wie „Müde bin ich, geh zur Ruh“ mit ihrer altertümlichen Sprache gar nicht weitergeben. Auch der Besuch der Sonntagsmesse, der früher dafür sorgte, dass man Gebete einfach automatisch lernte, ist für junge Familien unüblich geworden.
Schade ist das vor allem für die Kinder selbst: Ihnen werden wahrscheinlich ein Leben lang diese tief verwurzelten Gebete fehlen, die einfach aus dem Inneren hochsteigen und auch und gerade in der Not tragen und ihre Kraft erweisen. Die zeigen: Der betende Kontakt zu Gott ist keine kreative Leistung, die ich erbringen muss; er ist einfach da, wie der Atem, und schenkt Leben und Lebensmut.
Susanne Haverkamp