Lauren Groffs Mittelalter-Roman "Matrix"

Gottsuche als feministisches Projekt

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Lauren Groff hat eine Äbtissin aus dem zwölften Jahrhundert zur Hauptfigur ihres Romans „Matrix“ gemacht. Die Lektüre ist eine anregende Zumutung, findet Ruth Lehnen.


Aus einem Ort der Dunkelheit wird Maries Kloster zu einem wohlhabenden und guten Ort, doch nichts ist für die Ewigkeit.


„Sie kommt allein aus dem Wald geritten. Siebzehn Jahre alt, im kalten, feinen Märzregen, Marie aus Frankreich.“ So beginnt Lauren Groff ihren Roman „Matrix“. Schreiben kann Lauren Groff, ihre Bücher, wie auch „Licht und Zorn“, waren in den USA Bestseller. In „Matrix“ hat sie sich eine im Wortsinn starke Frau, „Marie aus Frankreich“, zur Heldin erkoren. Die Figur ist angelehnt an eine mittelalterliche Dichterin. Mit einem klugen Kopf gesegnet, aber nicht mit körperlicher Schönheit, das ist Marie. In allem ist sie zu groß, überragt alle. Nur sie nicht: Eleonore von Aquitanien, ebenfalls eine historische Figur. Eleonore tritt im Roman als Halbschwester von Marie auf. Die Königin schickt ihre 17-jährige Schwester in ein abgelegenes Kloster, in dem die Nonnen hungern und in der Kälte zugrundegehen.

Kein schadlos weggelesener Historienroman

Dort wird Maries Geschichte zur Erfolgsgeschichte. Nach Jahren der Entbehrung und Machtlosigkeit in hölzernen Schuhen gelingt es ihr, sich im Kloster einzufinden. Anders als die alte Äbtissin lässt sie die ihr anvertrauten Frauen nicht das tun, was diese am meisten hassen, sondern betraut sie mit dem, was sie lieben. Und es funktioniert: Maries Kloster wächst und wird zu einem Ort, an dem Wohlstand herrscht und die Frauen, jede nach ihrer Art, gut leben.  

So beschrieben könnte Lauren Groffs Buch einer der vielen schadlos weggelesenen Historienromane sein. Aber ihr Buch unterscheidet sich nicht nur in der Sprache von der Massenware. Es gelingt ihr, ein ganzes Frauenleben von der Jugend bis ins hohe Alter darzustellen. Maries Kloster schildert sie als feministische Utopie, die in der Vergangenheit spielt. Für Marie muss das Kloster ein „safe place“ sein, ein sicherer Ort. Doch die Frauen erleben sich zunächst als schutzlos und ausgesetzt.  Erst Marie mit ihrer körperlichen Kraft und mentalen Stärke gelingt es, das zu ändern. 
Die Frauen verwandeln sich in Bauarbeiterinnen, die ihr Kloster gegen männliche Angreifer mit einem Labyrinth abschotten, sie verwandeln sich in Kämpferinnen, die zum eigenen Schutz zu töten bereit sind. Die Männer komplett aus dem Leben der Nonnen zu verbannen, wird zu ihrer Obsession. Da scheint es eine logische Folge zu sein, dass die Frauen beginnen, die Messe selbst zu feiern, und auf den Priester verzichten. 
Das eindimensionale Männerbild ist ein Minus des Romans. Männer kommen wenig vor und ganz schlecht weg, vor allem sind sie generell bedrohlich.

Anklänge an die heilige Hildegard

Marie selbst wird als Visionärin geschildert, die immer wieder anfallsartig von ihren Vorsehungen überfallen wird. Ihre besondere Gabe lässt an die große Heilige Hildegard von Bingen denken. 
Spannend und sprachlich stark thematisiert der Roman religiöse Vorstellungen. Zum Beispiel glaubt die Äbtissin, Gott sei wie die Sonne: „Sie ist warm, strahlt ihre Wärme und ihr Licht aus und ist doch zugleich kühl und fern ... sie kann nicht innehalten, um überhaupt Notiz vom menschlichen Leben zu nehmen.“ 
Viel näher erscheint ihr da die Muttergottes, die in ihren Visionen auftaucht und ihr immer wieder hilft, ihr Leben zu bewältigen. Erst am Ende ihres Lebens erkennt Marie, dass sie zwar vielleicht ein frommes Leben gelebt, aber „doch tief im Inneren ihren eigenen rebellischen Stolz gepflegt hat“.   
Lauren Groff liefert mit diesem Roman einen Mix ab, der Leserinnen den Atem verschlagen kann: Gottsuche im Mittelalter als feministisches Projekt. Das Frauenkloster als Matriarchat: Der Romantitel „Matrix“ bezieht sich auf das lateinische „Stammmutter“, Mutter. Die amerikanische Autorin scheint Mittelalter, Mystik und Moderne mühelos zusammenzubringen.

Sieht so „weibliche Selbstermächtigung“ aus?

Dass es manchmal pathetisch zugeht und der Kitsch gestreift wird – geschenkt. Vieles scheint sehr genau recherchiert zu sein, die Autorin dankt am Ende des Buchs „ihren lieben Freundinnen, den Nonnen des Klosters Regina Lauris in Connecticut“, die ihr die „ungeahnte Schönheit des Klosterlebens offenbarten“. 
Das Buch wurde von den Rezensentinnen einhellig bejubelt. Der Tenor war, es handle sich um die Schilderung „weiblicher Selbstermächtigung“. Allein Kritikerin Daniela Strigl bemerkte nüchterner, als Überschrift sei auch „Sex im Kloster“ geeignet. 
Die Darstellungen lesbischer Liebe sind nicht die gelungensten des Romans. Mal ist Sex eine Art Heilbehandlung, dann wieder stereotyp „Strudel“, „Beben“, „Versinken“. Dafür ist das Cover des Buches aber ganz besonders schön.


ZITIERT

Marie betet 
Äbtissin Marie am Totenbett ihrer engen Weggefährtin Wulfhild:

„Nun, denkt sie, es hat schon damals bei ihrer Mutter nicht funktioniert. All diese Kraft in ihr, und trotzdem sind ihre Hände nicht imstande, in Toten das Wunder des Lebens heraufzubeschwören. Sie sieht in die Gesichter von Wulfhilds Töchtern, und ganz langsam begreift eine nach der anderen, dass ihre Mutter tot ist. 
Wir sehen uns im nächsten Leben wieder, sagt Marie. Der Schmerz ist zu groß, um es nicht zu glauben ... Während die Nacht langsam voranschreitet und ihr eigenes Fieber langsam nachlässt, vollzieht sich in ihr eine Wandlung. Kein lichtgleich strahlendes Gewand, keine Wolken, die vom Himmel ernst zu ihr sprechen, nur der Tod dieser, ihrer Seelentochter und die endlose Dunkelheit. Sie betet beileibe nicht das erste Mal im Leben, doch vor dieser Nacht war Beten, als würde sie eine Münze in ein Gewässer werfen, eine ins Unbestimmte gerichtete Hoffnung. Sie sprach nicht die strenge, ihr aufgezwungene Dreifaltigkeit an, sondern die Muttergottes, die das Antlitz ihrer eigenen Mutter hatte. Selbst im Gebet war sie eine Rebellin.“ 
aus Lauren Groff, Matrix, Seite 281

 

Ruth Lehnen