Interview mit Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen

"Hilfe geht mit Frustration einher"

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Der Mediziner Tankred Stöbe war bereits 19 Mal für Ärzte ohne Grenzen in Krisenregionen und hat nun darüber ein Buch geschrieben. Hauptberuflich arbeitet er als Notfallmediziner in Berlin. Im Interview spricht er über schwer auszuhaltende Ungerechtigkeiten und frustrierende Erlebnisse - aber auch darüber, was ihn nach all den Jahren motiviert.

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Tankred Stöbe hat in seinen Auslandseinsätzen viel erlebt - und nun ein Buch darüber geschrieben. Foto: kna


Myanmar, Indonesien, Gaza, Syrien, Sierra Leone, Uganda und dann wieder Alltag in Berlin. Herr Stöbe, wie schaffen Sie es, zwischen den Welten zu pendeln?
Das ist vor allem nach längeren Einsätzen eine Herausforderung. Die Zustände in den Krisengebieten auf der einen Seite und die medizinischen Möglichkeiten in Berlin auf der anderen - wenn ich das jedes Mal vergleichen würde, wäre das schwierig. Die Unterschiede, auch die Ungerechtigkeit, sind kolossal. Das geht nur, indem ich einen klaren Schnitt mache und versuche, in beiden Welten zu Hause zu sein und eine Erfüllung zu sehen. In den Krisengebieten fällt mir das leichter, die Sinnstiftung ist da offensichtlicher.


Wie erleben Sie nach einem Einsatz den Berliner Alltag?
Aspekte wie Sicherheit, Freiheit, Gleichheit, Möglichkeiten - die für uns in Deutschland selbstverständlich sind - nehme ich ganz anders wahr. Das sind tolle Privilegien. Hier können wir in jedes Cafe gehen und müssen nicht darauf achten, ob das gerade sicher ist oder nicht. Wir können uns Essen und Trinken leisten und müssen nicht überlegen, wo wir das finden können und ob es genießbar ist.


Viele der Konflikte sind von Menschen gemacht und Sie riskieren Ihr Leben, um den Betroffenen zu helfen. Macht Sie das wütend?
Das mitzuerleben und auszuhalten ist manchmal schwer. Die internationale Politik ist oft untätig oder befeuert Konflikte zusätzlich. Da muss ich mir sagen, ich bin Arzt, ich helfe den einzelnen Menschen, mehr kann ich nicht tun.


In Syrien sind sie 2012 selbst fast ins Kreuzfeuer geraten.
Das war eine kritische Situation. Tag und Nacht fielen die Panzergranaten in den Bergen und gleichzeitig wussten wir, dass die Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden, eher gering ist. Wir sind jede Nacht umgezogen, um nicht Zielscheibe zu werden. An einem Abend verabredeten wir uns mit zwei syrischen Ärzten. Da waren alle Mediziner der Region zusammen an einem Ort. In dieser Nacht wurden wir angegriffen. Ob wir das Ziel waren oder alles nur ein Zufall, das bleibt offen, im Krieg wird nichts erklärt.


Kliniken in Krisengebieten werden teilweise gezielt bombardiert. Macht Ihnen das Angst?
Das trifft uns ins Mark. Es gibt dazu klare völkerrechtliche Verträge. Das Rote Kreuz auf weißem Grund ist ein Schutzzeichen und bedeutete bisher eine gewisse Sicherheit. Seit einigen Jahren erleben wir bei Ärzte ohne Grenzen, dass sich das umkehrt. Ein Schock für uns war der Angriff der US-Luftwaffe auf das Krankenhaus in Kunduz, Afghanistan 2015. Dabei kamen 42 unserer Mitarbeiter ums Leben. Auch im Jemen, Libyen, Südsudan und Syrien werden Krankenhäuser bombardiert. Das bedeutet, dass auf lange Zeit dort keine Patienten mehr behandelt werden können.


Sie waren auch auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer. Wurden Sie für die Hilfe an Geflüchteten angefeindet?
Nein, als ich 2015 vor Libyen war, wurden wir als Helden gesehen - was wir nicht sein wollen. Damals gab es noch eine Willkommenskultur in Deutschland. Danach hat sich die öffentliche Wahrnehmung komplett gedreht, nur Abschottung ist aktuell Konsens in der Europa-Politik. Erst wurden die fliehenden Menschen kriminalisiert und dann die Helfer. Wir hatten drei Rettungsschiffe im Mittelmeer und müssen aktuell überlegen, ob wir noch ein Schiff bereitstellen können.


Kommt man sich da nicht vor wie bei einem Kampf gegen Windmühlen?
Humanitäre Hilfe geht immer auch mit Frustration einher. Es gibt sehr viele Dinge, die ich nicht ändern kann. Dazu kommt die Ohnmacht, dass auch die Betroffenen selbst oft nichts ändern können. Deshalb will ich aber keine Egal-Haltung entwickeln. Auf frustrierende Gedanken kann ich meine Kraft verschwenden oder ich schaue, was ich als Arzt tun kann und kümmere mich um die Menschen. Und dann gibt es erstaunliche Momente.


Was erleben Sie da?
Wenn es um Leben und Tod geht, um existenzielle Bedürfnisse, fallen alle Barrieren weg, egal ob Sprache, Religion, oder Kultur. Ich kann als Arzt alle Patienten behandeln, ohne dass wir die Sprache des anderen verstehen. Die meisten Menschen in Krisensituationen wachsen über sich hinaus und leisten Großartiges.


Was motiviert Sie?
Ich habe zuletzt in Gaza, Jemen, Libyen so viele wunderbare Menschen getroffen. Mir kommt in diesen Einsätzen manchmal mehr Menschlichkeit entgegen als in Berlin. In Krisengebieten sind die Notleidenden viel stärker aufeinander angewiesen als hier, wo wir ein sehr autonomes Leben führen und einander eigentlich nicht brauchen oder uns voneinander abgrenzen wollen.


Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis in den Einsätzen?
Da gibt es viele, jedes Mal. Dennoch war Ebola in Westafrika besonders. Ich habe in keinem Projekt gearbeitet, bei dem so viele Menschen unter unserer Behandlung gestorben sind, weil es keine Ebola-Medikamente gibt. Und wo zugleich die Begleitung dieser Menschen so wichtig - und auch schön - war. Manche haben uns mit ihren letzten Worten gedankt. Das sind unglaubliche Momente, die ich nie vergessen werde. Ich würde mir wünschen, dass wir in Europa über unseren Tellerrand blicken und anerkennen, wie gut es hier ist. Wir leben hier ein privilegiertes Leben und können davon etwas abgeben. Wenn wir uns für andere einsetzen bekommt unser Leben einen Sinn.

kna