Frank Kaufmann pilgerte als Oberschenkelamputierter auf dem Jakobsweg

"Ich habe gejammert und gelacht"

Image

Frank Kaufmann hat sich seinen Lebenstraum erfüllt: Er ist über 200 Kilometer auf dem Jakobsweg gepilgert – als Oberschenkelamputierter. Die Idee zu dieser Pilgerreise ist in einem Moment gereift, in dem Gott ihn berührt hat.

Foto: privat
Ziel erreicht: Frank Kaufmann (rechts) und Dieter Engels vor der Kathedrale in Santiago de Compostela. Foto: privat

Von Kerstin Ostendorf

Frank Kaufmann ist nicht religiös aufgewachsen. Er sagt, mit der Kirche habe er nicht viel am Hut. Aber der Gedanke an Gott und Jesus und die Suche nach dem Glauben lassen ihn nicht mehr los – seit 22 Jahren schon. Damals hatte er eine schwierige Zeit: Er war gerade vom Heroin losgekommen, hatte erfolgreich die Substitutionstherapie abgeschlossen, steckte aber noch in einer schwierigen Beziehung zu einer Frau. „Ich ging aus der Eingangstür des Krankenhauses und eine unglaubliche Energie hat mich geflutet. Das war unbeschreiblich und hat mich grundlegend geändert“, sagt Kaufmann. 

Der 58-Jährige, der sich in seiner Freizeit gern mit physikalischen und wissenschaftlichen Themen beschäftigt, kann sich diesen Moment nur auf eine Art erklären: „Damals hat Gott mich berührt.“ Seitdem sei er entspannt und gelassen. Er lasse das Leben einfach auf sich zukommen. 
Und er fasste einen Entschluss: Das Leben, wie er es bisher geführt hat, wollte er nicht mehr. Er wollte einen Neustart, im Alter von 36 Jahren. „Ich wollte endlich erwachsen werden. Ich habe mir eine Frist von 18 Jahren gesetzt, um glücklich zu werden“, sagt Kaufmann. Dazu gehört für ihn auch eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg. „Eigentlich war das eine Schnapsidee. Aber ja: Ich habe mir gesagt, dass ich diesen Weg gehen werde – und sei es auf einem Bein.“

Schon seit einer Verletzung als Jugendlicher hatte er immer Angst, sein Bein zu verlieren. 2016 hatte Kaufmann eine Routine-Operation am Knie. „Das war eigentlich kein großes Ding. Aber Bakterien haben die Wunde infiziert und sich in den Knochen gefressen“, sagt er. Über ein Jahr lag er in einem Würzburger Krankenhaus, immer wieder wurde er operiert, die Ärzte versuchten sein Bein zu retten. Doch vergeblich. „Ich merkte selbst, dass ich an etwas festhalte, was total kaputt ist. Ich konnte mich ja kaum noch bewegen“, sagt Kaufmann. Als sein rechtes Bein ab dem Oberschenkel abgenommen wurde, war er fast erleichtert. „Mein erster Gedanke nach der OP war: Ich bin gesund. Mein Zweiter: Der Jakobsweg wird jetzt schwieriger“, sagt Kaufmann.

Unvorbereitet und untrainiert auf dem Jakobsweg

Doch er hat sich von seinem Plan nicht abbringen lassen: Ende September 2021 stand Kaufmann, der im hessischen Ort Schlüchtern lebt, vor der Kathedrale in Santiago de Compostela. „Ich konnte das Versprechen, dass ich mir, meinem vor einigen Jahren verstorbenen Vater und Gott gegeben habe, einlösen“, sagt er. Hinter ihm lagen zwei intensive Wochen auf dem Jakobsweg. „Ich bin gelaufen, habe gelacht, habe es genossen – und gejammert“, sagt Kaufmann.

Gemeinsam mit seinem Freund Dieter Engels lief er die 235 Kilometer von Porto entlang der Atlantikküste bis nach Santiago. Engels war die Strecke mit seinen drei Söhnen bereits vor einigen Jahren gelaufen. Kaufmann war hingegen völlig unvorbereitet. „Von der Couch hoch und los“, sagt er. Er habe weder Bücher gelesen noch trainiert. „Ich wollte mich überraschen lassen“, sagt er. 

Täglich liefen die beiden 15 bis 20 Kilometer, von Herberge zu Herberge, mit ihren knapp zehn Kilogramm schweren Rucksäcken. „Doch gleich am ersten Tag haben wir nur 600 Meter geschafft“, sagt Engels. Dann machte Kaufmanns Beinprothese Probleme. „Als wir hinter der Stadt den Berg runterliefen, merkte ich, dass die Prothese zu locker saß. Ich hatte keinen sicheren Halt mehr“, sagt Kaufmann. Mit Mikrofasertüchern polsterte er die Prothese stärker und schützte seine Haut vor Reibung. 

Zu zweit liefen sie durch Hitze und Wolkenbrüche, über Wege voller Geröll und glitschigen Felsbrocken und überwanden viele Höhenmeter. „Der Jakobsweg ist für jeden Pilger anstrengend“, sagt Kaufmann. „Aber ich musste mir den Weg richtig erkämpfen. Mit zwei gesunden Beinen hätte ich den Weg nicht so intensiv erlebt wie jetzt.“ Er sei oft erschöpft gewesen, die Strecken teilweise eine Strapaze. „Mein hydraulisches Kniegelenk war manchmal so heiß, da hätte man eine Zigarette anzünden können“, sagt er.

Ans Aufgeben hat er aber nie gedacht. „Es hat mir einfach unglaublich Spaß gemacht“, sagt Kaufmann. „Es gibt dieses Hochgefühl, diese unglaubliche Zufriedenheit, wenn man etwas Großes gepackt hat. Und das hatte ich dort jeden Tag. Wenn ich nicht geflucht habe, habe ich gegrinst.“

Als Mensch mit einer Behinderung war er eine Besonderheit auf dem Pilgerweg. Kaufmann erinnert sich an einen Polen, der seine Pilgergruppe zurückließ und ihm für ein Foto hinterherrannte. „Der wollte mich unbedingt sehen und sprechen“, sagt er. „Da war keiner unterwegs, der nur auf meine Prothese glotzte. Die Leute feuerten mich an. Das hat mich ein Stück weit getragen.“

Vor allem diese Begegnungen sind ihm im Gedächtnis geblieben: Menschen, die ihnen den Weg gezeigt haben; ein Supermarkbesitzer, der sie zum nächsten kleinen Bahnhof gebracht hat, als Kaufmann einmal die Strecke zu lang wurde; andere Pilger, mit denen sie abends in den Unterkünften ins Gespräch kamen. „Es sind dort viele Menschen auf der Suche. Wer den Jakobsweg läuft, ist kein normaler Tourist“, sagt Kaufmann. 

Kaufmann möchte andere zum Pilgern motivieren

Er selbst nutzt die Zeit, um über sein Leben nachzudenken. „Natürlich habe ich mich gefragt, warum ausgerechnet mir das mit dem Bein passieren musste“, sagt er. Er glaubt, dass er diese Bürde tragen muss, weil er Fehler gemacht und Schuld auf sich geladen hat. „Ich habe Menschen wehgetan“, sagt er. „Aber mein Leben musste so laufen, damit ich werde, wie ich bin. Und so, wie ich heute bin, so will ich sein.“ 

Mit der Pilgerreise sei für ihn ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen, sagt Kaufmann. Er fühlt sich nun erwachsen: „Ich habe die Frist, die ich mir vor 22 Jahren gesetzt habe, eingehalten. Ich bin der glücklichste Mensch überhaupt.“ Er hat viele kennengelernt, die durch die Amputation eines Beines oder Fußes ihren Lebensmut verloren haben. „Mich hat das nicht umgehauen. Wir suchen uns unser Leben aus, wir können erkennen, lernen und immer weitergehen“, sagt er.

Kaufmann möchte nun andere Menschen mit Behinderung motivieren, loszulaufen. Anfang April hat er eine Pilgergruppe von Würzburg nach Rotenburg geführt. Für September plant er erneut diese Tour. „Und im nächsten Jahr will ich wieder nach Santiago!“