Interview mit Charlotte Knobloch

"Ich habe nicht vor zu gehen"

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Charlotte Knobloch spricht im Interview über den zunehmenden Judenhass und Deutschland und Pläne von Juden, das Land zu verlassen.

Foto: kna/Dieter Mayr
Charlotte Knobloch ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und war lange Präsidentin des Zentralrats der Juden. Foto: kna/Dieter Mayr


Als wie bedrohlich schätzen Sie die Situation für Juden in Deutschland mittlerweile ein?
Die Situation, in der wir uns heute befinden, ist grundsätzlich nicht neu, der Antisemitismus in Deutschland war auch nach 1945 nie ganz verschwunden. Er ist heute aber offener als früher, weniger verschämt und versteckt. Das haben wir in Halle in besonders drastischer Form gesehen, aber auch in den Jahren zuvor gab es immer wieder Angriffe. Ich erinnere nur an den Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal 2014 oder die Attacke auf Rabbiner Daniel Alter 2012. Ich könnte diese Liste noch lange fortsetzen.

Zur physischen Bedrohung kommt noch eine Psychische: Der Hass, der heute weite Teile der Gesellschaft durchdrungen hat, ist vor allem im Internet allgegenwärtig. Gerade vor diesem Hintergrund ist die Frage daher weniger, wie ich die Situation einschätze, sondern vielmehr, ob die jungen Leute hier für sich und ihre Kinder auf Dauer eine Zukunft sehen, denn daran hängt am Ende die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland insgesamt.


Wo sehen Sie die Ursachen für den Judenhass in unserem Land?
Antisemitismus wurde nicht 1933 in Deutschland erfunden und ebenso wenig 1945 in Deutschland besiegt. Er ist kulturell seit vielen Jahrhunderten präsent und wurde lange auch nicht energisch bekämpft. Selbst nach dem Ende der NS-Zeit wurde Judenhass gesellschaftlich lange kaum wahrgenommen, was der jüdischen Gemeinschaft nun auf die Füße fällt.

Ganz besiegen kann man Antisemitismus auch heute nicht, sehr wohl aber eindämmen. Hier spielen politische und demokratische Bildung – gerade bei der Jugend – aus meiner Sicht eine Schlüsselrolle. Auch der Austausch ist sehr wichtig. Ignatz Bubis seligen Angedenkens wollte an der Spitze des Zentralrats der Juden damals ein „Präsident zum Anfassen“ sein und ins Gespräch kommen; das hat wirklich etwas bewirkt. In der Münchner Kultusgemeinde haben wir deshalb auch sowohl jüdische als auch nichtjüdische Kinder im Kindergarten und an den Schulen.


Inwiefern sehr trägt die AfD zum Antisemitismus bei?
Die AfD hat bestehende Ressentiments aufgegriffen und diejenigen Menschen bestärkt, die sie hegen. Zugleich trägt sie den Hass, den wir im Internet und dort besonders in den sogenannten Sozialen Medien erleben, in die reale Welt und dort sogar in die Parlamente. Diese Rückkopplung von Hass und Intoleranz ist sehr gefährlich, weil kaum zu durchbrechen.

Dazu kommt, dass die Partei Standpunkte vertritt, die für das jüdische Leben in Deutschland untragbar sind. Die AfD hat mehrfach das Verbot von Schächtung und Beschneidung und damit faktisch ein Ende des religiösen jüdischen Lebens hierzulande gefordert. Außerdem greift sie die Erinnerungskultur frontal an, was einer Absage an die die Grundlage des demokratischen Wiederaufbau Deutschlands nach der NS-Zeit gleichkommt. Wer das „Nie wieder“ ablehnt und die Erinnerungskultur beenden will, der ist in puncto Antisemitismus Teil des Problems.


Was müssen Politik und Sicherheitsbehörden jetzt tun?
Aufgabe der Sicherheitsbehörden ist es, dem Judenhass überall dort Grenzen zu setzen, wo er auftritt – auf der Straße ebenso wie im Internet. Die Politik hat umgekehrt dafür zu sorgen, dass die Sicherheitsbehörden auch hinreichend ausgerüstet und ihre rechtsstaatlichen Waffen stets scharf genug sind. Konkret bedeutet das, dass jüdische Einrichtungen den Schutz bekommen müssen, den sie benötigen, es heißt aber auch, dass Judenhass im Netz nicht länger faktisch straflos bleibt. Gerade hier muss unbedingt nachgebessert werden, die Gesetze dürfen keine Schlupflöcher offen lassen. Dass Gerichte wie zuletzt in Dortmund „Nie wieder Israel“ als Parole auf einer Demonstration genehmigen und antisemitische Todeslisten wie „Judas Watch“ im Internet nicht gesperrt oder blockiert sind, ist ein Unding.

Positiv will ich anmerken, dass sich in den vergangenen Jahren hier schon einiges getan hat. Es ist ein echtes Problembewusstsein entstanden, aber es bleibt noch immer viel zu tun.


Was kann jeder Einzelne konkret tun?
Dazu kann ich nur aus der Rede von Michel Friedman zitieren, die er anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 9. November in München gehalten hat: Jeder muss Gesicht zeigen, aufstehen und sich gegen Hass, Intoleranz und Antisemitismus einsetzen. Auch für die Gedenkkultur müssen wir uns stark machen. Ohne die Erinnerung und ohne „Nie wieder“ ist unser Land heute nicht denkbar.

Ablehnung und Hass sind nur dann alltäglich, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Wir müssen denen Grenzen setzen, die unsere Freiheiten begrenzen wollen, und wir müssen unsere Demokratie verteidigen, auch um das jüdische Leben in unserem Land zu schützen.


Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle, hat gesagt: „Sich offen als Antisemit zu zeigen ist nicht mehr peinlich.“ Teilen Sie diese Auffassung?
Das Wort „Antisemit“ werden nur die wenigsten verwenden, aber inhaltlich hat Privorozki recht. Wir erleben heute ein Ausmaß an Judenhass, an das ich mich in der Geschichte der Bundesrepublik nicht erinnern kann. Die Schamgrenze ist eindeutig gesunken, und Judenhasser wagen sich heute häufiger in die Öffentlichkeit. Das ist ein Trend, der mir große Sorgen macht.


Privorozki sagt auch, er fühle sich nicht mehr wohl in Deutschland und denke daran, nach Israel auszuwandern. Was raten Sie den Juden in Deutschland: hierbleiben oder gehen?
Ich spreche selbst oft mit jungen jüdischen Menschen, die dann andeuten, dass sie womöglich weggehen möchten, wenn die Lage sich hierzulande nicht bessert. Ich versuche ihnen dann Mut zu machen, aber das wird heute mit jedem Tag schwerer.


Auch die Jüdische Gemeinde Düsseldorf konkretisiert Ausreisepläne. Wie beurteilen Sie solche Pläne?
Von meinem g’ttseligen Vater habe ich einen unerschütterlichen Optimismus geerbt. Ich für meinen Teil habe nicht vor zu gehen, München ist meine Heimat. Zugleich kann ich es wie gesagt gerade den jüngeren Leuten nicht verdenken, wenn sie sich nach anderen Möglichkeiten umsehen.


Welche Zukunft sehen Sie für Juden in Deutschland?
Das jüdische Leben in Deutschland ist heute vielfältiger und die Gemeinden sind größer als je zuvor seit 1949. Die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Renaissance, die wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, sind absolut da, wenn die entsprechenden Maßnahmen ergriffen werden. Eine wirkliche Normalität, in der jüdische Menschen ohne Angst und besondere Umstände leben können, werde ich aber wohl nicht mehr erleben. Meine Hoffnung ist, dass die nächsten Generationen dies noch erreichen und miterleben werden.

Interview: Andreas Lesch