170 Jahre Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken
Keiner soll allein glauben
Seit 170 Jahren ist das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken ein Werk der Solidarität. An diesem Sonntag, dem Diasporasonntag, steht das Hilfswerk selbst im Mittelpunkt, nicht aus Eitelkeit, sondern um auf seine Arbeit aufmerksam zu machen und um finanzielle Unterstützung zu bitten.
Als Seelsorgeheferin begann Barbara Naumann 1956 in der Pfarrei Christus König Luckau. Bei jedem Wetter machte sie sich auf, um auf den 56 Dörfern die verstreut lebenden katholischen Familien zu besuchen. „Am Küchentisch habe ich die Kinder in Religion unterrichtet“, erzählt die heute 87-Jährige. So erinnert sie sich, wie sie in Eisenhüttenstadt von Tür zu Tür gehen musste, um von den Einwohnern zu erfahren, wer von ihnen katholisch ist: „Nicht wenige haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen oder drohten mir, mich von der Vortreppe zu schupsen. Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“, zitiert sie einen Slogan der staatlich verordneten Entchristlichung.
Der Bonifatiusverein, der seit 1968 den Namen „Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken“ trägt, habe die Katholiken in der DDR durch diese schwierige Zeit begleitet, betont Naumann. Das Bonifa-
tiuswerk bildete während der 40-jährigen deutschen Teilung das zentrale Werk der Solidarität zwischen den Gläubigen in West und Ost. Ungefähr 454 Millionen DM konnten zwischen 1949 und 1990 der Kirche in der DDR zugeleitet werden.
Vom Missionsverein zur Bauförderung
Wenn das Bonifatiuswerk auf seine 170-jährige Geschichte zurückblickt, gelten die 40 Jahre der deutschen Teilung als ein Ausrufezeichen der Solidarität mit Katholiken, die als Minderheit ihren Glauben leben. Dabei stand das Hilfswerk stets vor großen Herausforderungen. Am 4. Oktober 1849 auf der „Dritten Generalversammlung des Katholischen Vereins Deutschlands“ in Regensburg gegründet, sollte der Bonifatiusverein Hilfe „für arme katholische Gemeinden“ in der Diaspora leisten sowie ein „Missionsverein in und für Deutschland“ sein.
Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 stieg die Zahl der Katholiken in den Industriezentren sprunghaft an. Das Bonifatiuswerk unterstützte in dieser Zeit den Bau von Kirchen und katholischer Infrastruktur. Zudem weitete sich der Blick auf neue Nöte. So gründeten Paderborner Kaufleute 1885 den „Bonifatius-Sammelverein“, der sich für Waisenhäuser engagierte. 1891 bildete sich der „Schutzengelverein“, später „Bonifatiuswerk der Kinder“, für die Förderung katholischer Schulen. Gemeinsam mit dem 1921 gegründeten „Bonifatiuswerk der Jugend“ bilden die beiden Kinderhilfswerke die Wurzel der heutigen Kinder- und Jugendhilfe. Seit 1918 sammeln auf Beschluss der deutschen Bischöfe die Erstkommunionkinder und seit 1952 die Firmbewerber für Projekte der Kinder- und Jugendhilfe.
Nach dem Ersten Weltkrieg hielt der Bedarf an neuen katholischen Orten in den Städten an. Während der Weimarer Republik entstanden jährlich fast 40 Kirchen. Der Nationalsozialismus allerdings schränkte das Wirken des Bonifatiuswerkes ein, bis es zum Erliegen kam. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Mit der Gründung der Diaspora-MIVA 1949 wurde die heutige Verkehrshilfe ins Leben gerufen. Die rapsgelben BONI-Busse, von denen derzeit circa 600 in den Diasporaregionen in Deutschland unterwegs sind, sind bis heute ein weiteres sichtbares Zeichen der Unterstützung.
Kirchlicher Wiederaufbau wäre viel schwerer geworden
Aufgrund von Flucht und Vertreibung kamen in den 1940er-Jahren zahlreiche Katholiken in bis dahin evangelisch geprägte Gebiete. Das Bonifatiuswerk förderte daher den Bau von Notkirchen, Priesterwohnungen, Gemeinderäumen sowie die Anschaffung von Fahrzeugen für die Seelsorge. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten allein in Deutschland mehr als 2000 zerstörte Kirchen wiederaufgebaut werden. Von 1949 bis heute wurden sogar mehr als 11 500 Kirchen, Kapellen, Gemeindehäuser oder Kindergärten unterstützt.
Mit der deutschen Teilung erlebten sich Katholiken in der DDR nicht mehr nur in einer Minderheitensituation, sondern auch unter einer Staatsführung, die den christlichen Glauben missbilligte und Gläubige wie Kirche schikanierte. Doch das Bonifatiuswerk blieb über die Grenze hinweg an deren Seite, und der 1966 erstmals abgehaltene „Diaspora-Sonntag“ entwickelte sich zum großen Tag der Solidarität mit den Katholiken in der DDR. Doch das Bonifatiuswerk nahm sich nicht nur der Nöte der Katholiken der innerdeutschen Grenze an. Seit 1974 setzt es sich auch für die Katholiken in der Diaspora Nordeuropas und seit 1995 für die Katholiken in Lettland und Estland ein.
Der Mauerfall bildete ein freudiges Ereignis in der Geschichte des Hilfswerkes. Endlich konnte den Katholiken wieder direkt geholfen werden. Doch der mit der Wende erhoffte Eintritt ostdeutscher Bürger in die Kirchen blieb aus. Vielmehr sehen sich bis heute Christen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in der Diaspora. Fast 80 Prozent der Einwohner sind weder getauft, noch gehören sie einer Religion an. Eine weltweit besondere Situation, die sonst nur noch in Tschechien und Estland ähnlich ist.
Den Herausforderungen der Gegenwart stellen
Mit dem Amtsantritt von Generalsekretär Monsignore Georg Austen 2008 begann das Bonifatiuswerk einen Reflexionsprozess zur veränderten Situation der Diaspora in Deutschland. Denn: Die Säkularisierung der Gesellschaft lässt Katholiken in einer emotionalen Diaspora des Glaubens zurück. Das Hilfswerk reagierte mit dem neuen Bereich „Missionarische und diakonische Pastoral“, der heutigen Glaubenshilfe. Sie unterstützt missionarische Projekte in ganz Deutschland und damit auch in katholischen Regionen. Neu hinzugekommen sind auch das Praktikum im Norden und die Personalstellenförderung. Der Schwerpunkt der Förderung liegt weiterhin aber in der zahlenmäßig extremen Diaspora in Nord- und Ostdeutschland, Nordeuropa und dem Baltikum. Unter dem Motto „Hilfswerk für den Glauben“ richtet das Bonifatiuswerk seinen Blick in die Zukunft: Denn die Not der Einsamkeit im Glauben fordert die Kirche in ganz neuem Maße heraus, in Ost wie in West, in Nord wie in Süd.
Ermutigen zu neuen missionarischen Initiativen
Kirche lebt von Menschen, die sich einbringen und engagieren. Mit der Diaspora-Aktion 2019 unter dem Leitwort „Werde Glaubensstifter“ möchte das Bonifatiuswerk zum Ausdruck bringen, dass alle Christen dazu eingeladen sind, Glaubensstifter zu sein oder zu werden, zum einen durch das eigene Glaubenszeugnis und zum anderen durch tätige Nächstenliebe. „Wir wünschen uns eine Kirche, in der die Menschen deutlich spüren, dass der Glaube für sie persönlich ein Segen ist. Und das geht nur, wenn er von Menschen bezeugt wird, die authentisch leben, was sie glauben: durch ihr Reden, Handeln und Beten. Wenn wir genau hinsehen, finden wir vielerorts Glaubensbrüder und -schwestern, die aus der Zuversicht des Glaubens leben und handeln. Diese Menschen zu entdecken und sie zu ermutigen, neue missionarische Initiativen anzugehen – um auch Menschen anzusprechen, denen der Glaube fremd ist –, ist für uns ein zentrales Ziel“, sagt Monsignore Georg Austen. Gleichzeitig dankt er all denjenigen, die das Bonifatiuswerk dabei unterstützen, „das Evangelium in unsere Zeit zu übersetzen, und helfen, unsere Werte – die für uns seit der Gründung des Bonifatiuswerkes bis heute Auftrag und Ziel sind – zu leben, sei es im Gebet, durch ehrenamtliches Engagement oder durch ihre Spende.“
Alfred Herrmann und Patrick Kleibold
Christen müssen ihr Schneckenhaus verlassen
Bonifatiuswerk-Generalsektretär Monsignore Georg Austen über die Diaspora in Deutschland, die Zukunft des Glaubens und über die persönliche Verantwortung eines jeden Christen.
Papst Franziskus hat alle Getauften dazu aufgerufen, selbst als Missionare tätig zu werden. Was bedeutet das für jeden einzelnen konkret?
Wir dürfen nicht ausschließlich über die Fehlentwicklungen in unserer Kirche – die dringend anzugehen sind – jammern und nur um uns selbst kreisen. Vielmehr müssen wir schnellstmöglich unser Schneckenhaus verlassen. Denn als Christen haben wir den Auftrag uns aktiv einzumischen. Es ist unsere Aufgabe die Frohe Botschaft in die Gesellschaft zu tragen.
Das klingt einfach. Doch immer weniger Christen trauen sich, mit anderen über ihren Glauben zu sprechen. Was muss geschehen?
Genau an dieser Stelle sollten wir ansetzen. Als Christen brauchen wir eine neue Form der Selbstvergewisserung, neues Selbstvertrauen, um öffentlich für unseren Glauben einzustehen, und die notwendige Sprachfähigkeit über die Inhalte unseres Glaubens. Dieser Dreischritt ist nicht einfach, doch wenn er gelingt, habe ich keine Angst vor der Zukunft unseres Glaubens. Es kommt nicht auf die Anzahl der Christen in unserer Gesellschaft an, sondern darauf, wie wir uns einbringen und was wir für alle an Wertvollem zu sagen haben. Ebenso sollten wir ungewohnte Orte und Menschen außerhalb gewohnter Strukturen besuchen. Auch dort begegnen wir dem Wirken Gottes und können voneinander lernen und gemeinsam die Fragen des Lebens angehen.
170 Jahre Bonifatiuswerk – was bedeutet dieses Jubiläum für Sie?
Es ist ein Anlass innezuhalten, um einen Blick in Dankbarkeit auf die Wurzeln unseres Hilfswerkes zu werfen, das zu den ältesten in Deutschland gehört. 170 Jahre Solidarität mit den Katholiken in der Diaspora, das bedeutet eine lange Tradition. Wir stehen in einer großen Geschichte, die geprägt ist durch das uneigennützige Handeln von engagierten Katholiken. Natürlich besinnen wir uns auch auf den Heiligen Bonifatius, nach dem unser Hilfswerk benannt ist. Seiner Tradition folgend, möchten wir unseren Glauben in der Gesellschaft zur Sprache bringen sowie die Frage nach Gott in Gegenwart und Zukunft wachhalten. Zugleich möchten wir uns bei all denjenigen bedanken, die uns auf unserem Weg unterstützt haben und unterstützen, sei es im Gebet, durch ehrenamtliches Engagement oder durch ihre Spende.
Interview: Patrick Kleibold