Sehnsuchtsort Jerusalem

Krieg und Frieden

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„Freut euch mit Jerusalem und jauchzt in ihr alle, die ihr sie liebt“, sagt der Prophet Jesaja. Jerusalem ist ein Sehnsuchtsort – damals wie heute und auch für unseren Autor Stephan Wahl. Er liest die Lesung mit gemischten Gefühlen.

Foto: Matthias Petersen
Dieser Blick auf Jerusalem ist schon fast legendär. Und weckt in nicht wenigen Menschen die Sehnsucht, dort auch einmal hinzufahren. Foto: Matthias Petersen


Immer wenn ich früher die Stadt Jerusalem besuchte, gehörten am ersten Tag zwei Wege zum absoluten Pflichtprogramm. Der erste führte mich in die Grabeskirche – warum, na ja, das liegt auf der Hand, nicht nur für einen katholischen Pfarrer. Das zweite Ziel war der Herzl-Berg, genauer: das Grab von Yitzhak Rabin, dem ermordeten israelischen Ministerpräsidenten. 

Der 4. November 1995, der Tag seiner Ermordung, unmittelbar nach einer großen Friedenskundgebung, auf der er leidenschaftlich gesprochen hatte, ist für mich ein Meilenstein im Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israelis. Ein trauriger Meilenstein, ein schrecklicher. Die Schüsse eines israelischen Fanatikers trafen nicht nur den um Aussöhnung und Frieden bemühten Premierminister, sie rissen eine tiefe Wunde in den gesamten Friedensprozess. Von dieser klaffenden Wunde hat sich das Land nie erholt. 

Hoffnung? Das war früher einmal

Damals war der Friede mit Händen greifbar, die Stimmung zwischen den verfeindeten Lagern dank der glaubwürdigen Autorität Rabins optimistisch und endlich hoffnungsvoll. Das war einmal. Von dieser Stimmung ist auf beiden Seiten heute wenig übrig geblieben. Resignation auf allen Ebenen. Keiner weiß mehr, wie es weitergehen soll. Die Sehnsucht nach einem endgültigen und dauerhaften Frieden ist einem pragmatischen Way of life gewichen. Von der Aufbruchstimmung Mitte der neunziger Jahre spüre ich im Jerusalemer Alltag wenig. 

Die Verse aus Jesaja, die heute die alttestamentliche Lesung der Liturgie gestalten, wirken vor diesem Hintergrund wie ein Märchen, das zu schön ist, um wahr zu sein: „... Wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr ...“ So zitiert Jesaja den Herrn selbst mit seiner Verheißung für Jerusalem. 

Als diese Worte vor vielen Jahrhunderten niedergeschrieben wurden, war die Situation in der Stadt natürlich eine völlig andere, aber die Stimmung in Jerusalem war auch damals alles andere als friedlich und ausgeglichen. Die Heimkehrer aus dem babylonischen Exil fanden Menschen vor, die ihnen fremd waren und die jetzt die Stadt bewohnten – mit ihren diversen Gottheiten. Nach der Freude über das Ende des Exils folgte die Ernüchterung über die Situation im real existierenden Jerusalem. 

Neue Strukturen aufzubauen, ging langsamer und war schwieriger als geplant. Unsicherheit, Zweifel, resignative Stimmungen mehrten sich. Und in genau diese wackelige Stimmung verkündet der Prophet: „Freut euch mit Jerusalem und jauchzt in ihr alle, die ihr sie liebt! Jubelt mit ihr ... Wie einen Mann, den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost.“ 

Egal wie schwierig die Situation war, nie haben es die Propheten aufgegeben, an die väterliche und an die, wie Jesaja deutlich betont, mütterliche Gegenwart Gottes zu erinnern. Ein Gedanke, der tröstet, stärkt und gleichzeitig herausfordert. 
Manchmal sind es die kleinen Alltagsgeschichten, oft unbemerkt, ohne große Öffentlichkeit, in denen deutlich wird, dass Gott sich auch heute nicht abgewandt hat und dass ein fairer und dauerhafter Friede in Jerusalem möglich werden kann, wenn sich im Großen endlich realisieren würde, was im Kleinen bisweilen gelingt: respektvoller Umgang miteinander. 

Klingt erfunden, ist aber wahr

Eine Szene am Damaskustor: Ein palästinensicher Taxifahrer hält mit seinem Wagen an seinem gewohnten Standort, steigt aus, holt seinen Gebetsteppich aus dem Kofferraum und beginnt mitten im Trubel am Straßenrand so wie immer sein Gebet. Er ist Muslim. Dann fängt es an zu regnen. In der Nähe eilt ein orthodoxer Jude in seiner schwarzen Kleidung vorbei. Er kommt aus der Altstadt, wahrscheinlich war er zum Gebet an der Westmauer, der sogenannten Klagemauer. Mit einem aufgespannten Regenschirm hastet er in Richtung Mea Shearim, eines der ultraorthodoxen Stadtviertel von Jerusalem. Dabei sieht er den knienden Mann auf seinem kleinen Teppich, stoppt, geht zu ihm hin und hält seinen Regenschirm so lange über den Betenden, bis der sein Gebet beendet hat. Dann umarmen sich beide kurz und wortlos und jeder geht seines Weges. 

Die Geschichte klingt erfunden, ist aber genauso passiert in dieser konfliktgeladenen Stadt Jerusalem, die von ganz anderen, traurigen Szenen zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Juden, Muslimen, Christen zu erzählen weiß. Sie ist ein Lichtblick, ein Hoffnungszeichen, sie erzählt vom Respekt der Religionen untereinander, der möglich ist – wenn man nur will. 

Und mit dem Stichwort „Respekt“ ist sie auch ein Appell, der nicht nur für Jerusalem gilt. Menschen, die trotz unterschiedlicher Auffassungen und Lebensweisen Respekt voreinander haben und diesen Respekt auch zeigen, entgiften manche Auseinandersetzung, hören ohne vorgefasste Meinung zu, deeskalieren  schwerwiegende Konflikte. 

Diese Menschen sind damit auf undramatische Weise Friedensboten, die, auch wenn vieles immer wieder dagegenspricht, deutlich machen, dass der „Strom des Friedens“, von dem der Prophet Jesaja spricht – auch wenn er sich manchmal nur als ein kleines Rinnsal zeigt –, noch nicht versiegt ist.

Stephan Wahl