In Frieden sterben - so wie der biblische Simeon

Lächelnd sterben

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Der greise Simeon ist sicher: Nun kann er in Frieden scheiden. In Frieden zu sterben, das wünscht sich wohl jeder. Aber wie kann das gelingen? Was braucht man dafür? Ein Gespräch mit dem Augsburger Hospizseelsorger Armin Zürn.

Foto: Fred Schöllhorn
Der Baum des Lebens und der Tod: Domkapitular Armin Zürn im Augsburger Hospiz St. Vinzenz. Foto: Fred Schöllhorn


Die Hoffnung stirbt zuletzt. Bis zum Schluss hatte die alte Bäuerin gehofft, zu Hause sterben zu können. Als sie nach sechs Wochen in der Klinik um 3 Uhr nachts für immer die Augen schließt, kann die 90-Jährige dennoch in Frieden gehen – weil sie sich vorher in aller Ruhe verabschiedet hatte. Auf ihr Ende war sie gut vorbereitet. 

Beide Töchter waren abwechselnd bei ihr am Krankenbett, hatten ihre Hand gehalten, mit ihr gebetet und das Leben Revue passieren lassen. Der Schwiegertochter hatte sie noch das Rezept für ihre berühmte Sonntagssuppe mitgegeben („Nicht 
zu viel Ei in die Markklößchen“), dem Sohn und Hoferben die Fürsorge für die Pächter der Landwirtschaft ans Herz gelegt („Leben und leben lassen“). Am Sonntagmorgen hat sie den Gottesdienst im Fernsehen verfolgt und später den jüngsten Enkel mit einem Kreuzzeichen auf der Stirn verabschiedet, so wie zuhause, wenn er morgens zur Schule ging. Dann war sie gestorben. Sieht so ein Scheiden in Frieden aus? So wie es von Simeon überliefert ist, der kurz vor seinem Tod im neugeborenen Jesus den Retter der Welt erblickt und Gott lobpreist: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden …“ 

Domkapitular Armin Zürn begleitet seit 22 Jahren sterbende Menschen. Schon in jungen Jahren, so erzählt er, durfte er eine schwerkranke Frau in einen ruhigen Tod begleiten, ein Erlebnis, das ihn stark geprägt und früh zur Hospizarbeit geführt hat. Ist er also ein Experte fürs friedliche Sterben? Nein! „Das Sterben ist so individuell wie das Leben“, sagt Zürn. „So wie jeder individuell gelebt hat, erlebt jeder sein ganz individuelles Sterben.“ Man könne nur Unterstützung geben, Hilfe und Begleitung anbieten – auch für die Klärung und Bewältigung von Angst und Ungelöstem, Unausgesprochenem, Unversöhnlichem.

Streitigkeiten beilegen, um Verzeihung bitten

Vielleicht will der Mensch am Lebensende noch seinen Frieden machen mit dem Bruder, mit dem er seit Jahren nicht gesprochen hat. Oder der Tochter, „die es im Leben zu nichts gebracht hat“, das Vertrauen schenken. Oder den ungeliebten Schwiegersohn um Verzeihung bitten, dass man ihn nicht wirklich akzeptiert hat. Bei anderen geht es um das Erinnern und den Rückblick in Dankbarkeit auf das, was gut war. 

Dass man leichter gehen kann, wenn man mit sich und der Welt im Frieden ist, sagen auch Palliativmediziner wie die Bochumer Ärztin Bettina Claßen. Sie hat die Erfahrung gemacht, „dass Menschen, die ihr Lebensende annehmen können, die nicht dagegen kämpfen, sehr ruhig, viele sogar lächelnd gehen“. 

Für Seelsorger Zürn hängt ein friedliches Sterben ganz entscheidend von der persönlichen Grundeinstellung zum Leben ab.  „Wer das Leben als Geschenk ansieht, das einem anvertraut wurde, und das Sterben als das Zuendegehen der geschenkten Zeit, tut sich leichter.“ Wer das Leben dagegen als machbar betrachte und damit den Tod als das Verlieren eines Kampfes ansieht, wird schwerer gehen. 

Im 2018 eingeweihten Hospiz St. Vinzenz in Augsburg ist Sterben ein Teil des Lebens. Hier soll das Leben nicht verlängert, sondern das Sterben als Teil des Lebens angenommen werden. Anstatt den Tod wie eine Krankheit zu bekämpfen, werden die Symptome des Sterbens gelindert. 

Das Haus wirkt wie ein kleines, freundliches Hotel. Im Foyer steht ein Lebensbaum, der ein rotes Herz aus Glas zum Zentrum hat und die Inschrift trägt: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen.“ Für den Künstler Martin Knöfel soll die Skulptur „Liebe und Geborgenheit ausstrahlen, damit die Gäste ihr Sterben gut leben können“. Kleine Gedenkkarten am Lebensbaum machen die Besucher auf den Tod eines Gastes, aber auch auf ihre eigene Endlichkeit aufmerksam. 

Das große Hospiz-Team erfüllt den Gästen nach Möglichkeit jeden Wunsch. Wann wollen sie wie gepflegt werden? Was mögen sie gern essen und trinken? Brauchen sie Schmerzmittel? Wollen sie raus auf die sonnige Terrasse? Suchen sie ein Gespräch? Mit Angehörigen? Mit einem Ehrenamtlichen? Mit dem Seelsorger? Mit dem Mediziner? Armin Zürn sagt: „Sicher ist es eine große Hilfe, in Frieden zu scheiden, wenn alle Bedürfnisse berücksichtigt werden und immer Menschen da sind, die das im Blick behalten.“ 

Auch gläubige Menschen können Angst haben

Der Glaube, dass unsere Existenz mit dem Tod nicht endgültig vorbei ist, spendet Trost. Aber auch Menschen, die an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, können nicht unbedingt ohne Ängste gehen. „Wenn aber der Mensch mit seiner Angst vor dem Danach oder mit seinen Zweifeln und Fragen auf einen Menschen trifft, der bereit ist, zuzuhören, der keine vorgefertigten Antworten hat, sondern versucht, mit ihm diese Antworten zu finden, kann es sehr stark helfen, dass ein Mensch in Frieden sterben kann“, sagt Zürn. Weil die Ängste reduziert werden, Angst vor den Schmerzen, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor dem Abhängigsein, Angst vor dem Danach. „Im Gespräch verliert die Angst an Mächtigkeit.“ Das gilt im Hospiz genauso wie bei jeder anderen Begleitung eines Menschen auf seinem letzten Weg. Sei es zu Hause oder in einer Klinik. 

Grundsätzlich aber gilt: Wer sich im Leben vorausschauend und unabhängig von einer Erkrankung auf sein Ende vorbereitet, kann leichter und in Frieden gehen. Pfarrer Zürn empfiehlt deshalb, sich frühzeitig Gedanken zu machen, mit welcher Einstellung und mit welcher Begleitung man aus dem Leben scheiden will. Dazu gehören für ihn unbedingt eine schriftliche Betreuungsvollmacht und eine Patientenverfügung, die er auch als Werk der Nächstenliebe für die Angehörigen und letzten Lebensbegleiter ansieht. „Weil sie dann wissen, was ich will und was nicht und dass ich mich mit meinem Ende auseinandergesetzt habe. Sie können dann meinen Willen durchsetzen, wenn ich mich selbst nicht mehr äußern kann.“ Und je früher man sich mit dem Sterben beschäftigt, umso eher hat man die Möglichkeit, sein Leben intensiv wahrzunehmen. 

Aber der Seelsorger weiß auch: „Sich mit dem Ende zu beschäftigen, erfordert Mut. Mut, andere mit einzubeziehen und ihnen das Vertrauen zu schenken, dass sie mich unterstützen können. Nur dann können mir Begleiter Zeit schenken und für mich da sein und das Alleinsein reduzieren. Auch dieses Vertrauen ist ein wichtiger Baustein, um in Frieden gehen zu können.“ 

Marilis Kurz-Lunkenbein