Im Würzburger Neumünster hängt ein Kreuz mit einer großartigen Botschaft

Lass dich umarmen!

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Der leidende Christus hängt mit weit ausgebreiteten Armen am Kreuz: So kennen wir es aus unseren Kirchen und so steht es im Mittelpunkt der Karwoche. Das Kreuz 
im Würzburger Neumünster ist anders. Hier umarmt Christus die Welt.

Foto: Ulrich Kneise
Um das Würzburger Kreuz ranken sich viele Legenden. Alle sprechen von der Liebe Christi – sogar zu Dieben und Räubern. Foto: Ulrich Kneise

Von Susanne Haverkamp

Gleich in der Nachbarschaft des Kiliansdoms, der Würzburger Bischofskirche, steht die Wallfahrtskirche St. Johannes, genannt das Neumünster. Dort, wo sich jetzt eine Kirche erhebt, soll im Jahr 689 der irische Wanderbischof Kilian zusammen mit seinen Gefährten Kolonat und Totnan den Märtyrertod gefunden haben.

Die geistliche Hauptattraktion der ursprünglich romanischen und später barock umgestalteten Kirche ist deshalb die Kiliansgruft mit ihrem Schrein. Zu dem ungewöhnlichen Kreuz im Kuppelraum der Oberkirche in Würzburg verirren sich weit weniger Gläubige. Dabei birgt es eine Botschaft, die mindestens genauso spannend ist wie die des heiligen Kilian.

Der heilige Bernhard und die Diebe

Sicher ist, dass das Kreuz um das Jahr 1350 entstand, im Jahr 2009 wurde es aufwendig restauriert. Die ungewöhnliche Gestaltung der Arme geht vermutlich zurück auf eine Legende, die über den heiligen Bernhard von Clairvaux (1090–1153) erzählt wird:

Einmal soll Bernhard von einem anderen Mönch beobachtet worden sein, wie er allein in der Kirche betete. Bernhard lag ausgestreckt auf dem Boden und war ganz vertieft in sein Gebet. Da sah der zuschauende Mönch in einer Vision, wie sich ein Kreuz über dem betenden Bernhard erhob, wie der Gekreuzigte seine Arme von dem Balken löste, sich hinabbeugte und den Ordensgründer liebevoll umarmte.

Als „Amplexus“ (Umarmung) ging das Motiv später in die Kunstgeschichte ein. Aber alle weiteren Amplexusbilder und -objekte zeigten ausschließlich Christus und Bernhard von Clairvaux – als ob nur dieser Heilige eine Umarmung Christi bräuchte. Das Würzburger Kreuz ist anders. Hier kann sich jeder von Christus umarmt fühlen. Sogar Übeltäter – das erzählen jedenfalls verschiedene Legenden, die sich um die Entstehung des Kreuzes drehen. Sie alle gehen ungefähr so:

In der Neumünsterkirche zu Würzburg gab es ein Kreuz, das viele Pilger in seinen Bann zog. Der Schmerzensmann hing mit ausgebreiteten Armen daran, und viele Menschen beteten inständig davor und spürten, welcher Trost von dem leidenden Christus ausging. Wie es damals so üblich war, brachten die Gläubigen als Dank und Bitte Geschenke zum Kreuz: Schmuck aus Gold und Silber, auch Edelsteine sollen dabei gewesen sein. Das lockte einen Dieb an, der sich eines Abends in der Kirche versteckte, um sich später in der Nacht an den Gaben zu bereichern. Als er im Dunkeln auf den Altar kletterte, über dem das Kreuz hing, und gerade hinauflangte, um den Schmuck zu ergreifen, spürte er, wie sich die Arme Christi vom Kreuzesbalken lösten und sich fest um ihn legten.

Es gibt Varianten, wie der Dieb mit dieser Umarmung umgeht. Manchmal wird er von der Liebe so durchströmt, dass er seine Tat aufs Tiefste bereut und umkehrt; manchmal ist er unbelehrbar, so dass Christus ihn umklammert, bis die Polizei ihn in Gewahrsam nimmt. Gleich ist den Legenden aber: Seit dem missratenen Raubzug sind Jesu Arme so geblieben – nicht ausgestreckt am Kreuz, sondern jeden umarmend, der sich umarmen lassen möchte.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Mich begeistert dieses Kreuz, das mir unbekannt war, bis mir vor einigen Wochen das Buch „Umarmung Christi“ von Peter Dyckhoff in die Hand fiel. Der Priester und Autor lädt darin dazu ein, das Kreuz zu betrachten: die Hände, in denen noch die Nägel stecken, das Blut, das am Körper hinabläuft, das kostbare Lendentuch, das gequälte Antlitz mit den weit geöffneten Augen.

Mir reicht allerdings schon das Bild von diesem Kreuz. Und dieser eine Gedanke: dass der leidende Christus seine Arme vom Holz nimmt, um die Leidenden der Welt zu umarmen, die vom Krieg Gebeutelten, die brutal Ausgebombten, die von Granaten Gezeichneten, die weinenden Kinder, die verzweifelten Frauen, die verwundeten Männer – wir sehen sie seit Wochen im Fernsehen. Christus umarmt aber auch die Hungernden der Welt, die Menschen, die durch Stürme und Fluten ihr Zuhause verlieren, die Gewalt erleiden und missbraucht werden. Und er umarmt jeden von uns, der in seinem Leid zu ihm kommt: in Krankheit und Einsamkeit, in Depression und Angst, in Streit und Schmerz. 

Wir sind daran gewöhnt, in der Karwoche auf den leidenden Christus zu schauen, auf das Haupt voll Blut und Wunden. Das Würzburger Kreuz zeigt hingegen: Der Leidende schaut auf uns. Er will nicht bedauert und betrauert werden. Vielmehr hat er noch am Kreuz die Augen offen für uns Menschen und für seine ganze leidende Schöpfung.

Vielleicht kann dieses Kreuz den einen oder die andere durch die Karwoche begleiten. Gerade in diesem Jahr und gerade, wenn das Leben aus welchen Gründen auch immer schwierig ist. Die evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) sagt: „Am Ende der Frage und der Suche nach Gott steht keine Antwort, sondern eine Umarmung.“ Und im Johannesevangelium (12,32) heißt es: „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ So kann man sich das wohl bildlich vorstellen.

Peter Dyckhoff: Umarmung Christi. fe-Medienverlag, 127 Seiten, 12 Euro