Was das Liebesgebot Jesu für das Miteinander in einem Orden bedeutet

"Liebe ist Arbeit"

Image

Das neue Gebot, das Jesus beim letzten Abendmahl verkündet, könnte kürzer und schlichter kaum sein: „Liebt einander!“ Diese Weisung zu befolgen, ist jedoch höchst anspruchsvoll. Wie die Franziskaner es versuchen, erläutert Bruder Thomas Abrell, Oberer des kleinen Franziskanerklosters Ohrbeck bei Osnabrück.

Foto: Oliver Pracht
„Eine Begegnung ist gelungen, wenn ich die Stärke des anderen erkenne“, sagt Bruder Thomas Abrell. Foto: Oliver Pracht

Von Ulrich Waschki

Franz von Assisi war kein Theoretiker. Wenn er etwas aufgeschrieben hat, gab es dafür einen Anlass, sagt Franziskanerbruder Thomas Abrell. „Die Brüder sollen nicht in der Öffentlichkeit miteinander streiten“, ist so eine Regel, die der heilige Franziskus seinem Orden hinterlassen hat. Für Thomas Abrell, Oberer des kleinen Franziskanerklosters Ohrbeck bei Osnabrück, ist diese Aussage ein klarer Hinweis, dass es wohl zu Franziskus’ Zeiten Streitereien in der Öffentlichkeit gegeben haben muss.

Damit verstoßen Franziskus’ Ordensbrüder gegen die Weisung Jesu, die an diesem Sonntag im Evangelium zu hören ist: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ Also gab Franziskus seinem Orden eine klare Regel. Schließlich haben sich Ordensleute auf einen besonderen Weg der Nachfolge Jesu gemacht. Mit ihrem ganzen Leben wollen sie deutlich machen, dass sie Jüngerinnen und Jünger Jesu sind. Der Verzicht auf öffentlichen Streit kann da nur ein erster Schritt sein. 

Zuwendung, ohne eine Gegenleistung zu erwarten

Jesus will mehr: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“, sagt er. Lieben wie er? Was heißt das? „Jesus geht in Vorleistung. Er geht voraus und wartet nicht, bis der andere kommt oder Dinge ausgehandelt sind“, sagt Bruder Thomas. Jesus gibt seine Zuwendung, heilt Menschen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
 
Die menschliche Erfahrung sieht oft anders aus. Das zeigt sich auch an unserer Sprache: „Eine Hand wäscht die andere“, „geben und nehmen“, „ich gebe, damit du gibst“. Für dieses Prinzip sozialen Verhaltens gibt es Sprichwörter. Nicht aber für ein Verhalten nach Jesu Vorbild. Denn das ist riskant. „Für mich heißt das, dass ich mit einem grundsätzlichen Vertrauen und nicht mit Misstrauen auf die Menschen zugehe“, sagt Bruder Thomas. 
Doch damit setzt er sich der Gefahr aus, dass dieses Vertrauen missbraucht wird. Aber auch das passt zum Vorbild: Auch Jesus zeigt sich verletzlich. „Am Ende ist er ja ein Gescheiterter, weil er am Kreuz stirbt“, erinnert Bruder Thomas. Es ist dieses Prinzip der voraussetzungslosen und verletzlichen Zuwendung, das die Liebe Jesu ausmacht.
 
Liebe ist ein großes Wort, weil man sofort an die Schmetterlinge im Bauch, die große romantische Liebe denkt. Wenn Bruder Thomas über die Liebe spricht, die Jesus im Evangelium fordert, wird es eher nüchtern und pragmatisch: „Liebe ist Arbeit“, sagt er und spricht über seinen Weg, anderen Menschen zu begegnen. Dabei fällt immer wieder das Wort „Respekt“. Denn darum geht es: dem anderen Menschen mit Respekt zu begegnen, seine Würde anzuerkennen, nicht die Schwächen, sondern die Stärken wahrzunehmen. „Eine Begegnung ist gelungen, wenn ich die Stärke des anderen erkenne“, sagt Bruder Thomas. 

Lieber bilden als erziehen

In unserer Gesellschaft gehe es aber oft darum, dem anderen die Schwächen vorzuhalten, etwa im Arbeitsleben. Wenn jemand auf der Karriereleiter einen Schritt zurück macht oder gar scheitert, wird er als schwach gebrandmarkt. Deswegen mag Bruder Thomas das Wort Erziehung auch nicht so sehr. Er spricht lieber von Bildung, bei der es darum geht, nach Stärken zu suchen, nach dem, wofür ein Mensch brennt. Erziehung klingt für Bruder Thomas danach, dass Menschen zurechtgezogen, passend gemacht werden für ein vorgegebenes System, anstatt Systeme den Stärken der Menschen anzupassen.
 
Die Stärken und guten Seiten zu sehen, ist nicht immer einfach. Bruder Thomas lebt mit sechs weiteren Mitbrüdern im Kloster Ohrbeck. Alle sind grundverschieden. Sie kommen aus unterschiedlichen Generationen, haben ganz unterschiedliche Lebenswege. Einer war zum Beispiel Missionar in Afrika, ein anderer leitete das Bildungshaus, das zum Kloster gehört.

Nicht jeder Bruder muss ein Freund sein
 
„Im normalen Leben wären wir uns wahrscheinlich nie begegnet“, sagt Bruder Thomas. „Freunde sucht man sich aus, Brüder werden einem gegeben. Ich kann nicht mit jedem Ordensbruder befreundet sein.“ Aber mit jedem könne man respektvoll umgehen, sich für ihn interessieren, ihn als Menschen sehen. „Mancher Stinkstiefel wandelt sich, wenn er merkt, dass er respektiert wird“, sagt der Franziskaner. Doch auch das hat Grenzen: Selbst Franziskus kennt das. Er spricht von „Bruder Mücke“, wenn ein Bruder die Gemeinschaft nur aussaugt, sich selbst aber nicht einbringt. „Es gibt Brüder, bei denen jede Gemeinschaft kaputtgeht“, sagt Bruder Thomas. Sie müssen den Orden verlassen. 

Aber bis dahin ist es ein langer Weg. Gibt es Konflikte im Orden, werden Gespräche geführt, Brüder in andere Niederlassungen geschickt, was bei den Franziskanern ohnehin mehrfach in einem Ordensleben geschieht. „Es gibt aber auch einen Punkt, an dem man sagen muss, dass es nicht mehr geht. Da geht es darum, die Gemeinschaft oder die anderen Brüder zu schützen.“ Doch auch in einem solchen Fall wird der andere Bruder nicht einfach fallengelassen. „Wir versuchen dann, den Bedürfnissen der Gemeinschaft und des betroffenen Bruders gerecht zu werden.“