Frauen können unter den Folgen eines Schwangerschaftssabruchs leiden

„Mein Kind hat seinen Platz bei Gott“

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In Deutschland wurden im Jahr 2019 rund 101 000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, wie das Statistische Bundesamt berichtet. Die Zahl ist seit einigen Jahren relativ stabil. Für die Frauen und Angehörigen, die unter den Folgen einer Abtreibung leiden, will der Verein „Rachels Weinberg“ da sein. Bei der Bewältigung des Geschehens spielt der Glaube eine zentrale Rolle.


Allein und umgeben von dunklen Wolken – so geht es vielen Frauen, die sich nach einem Schwangerschaftsabbruch schuldig fühlen.

„Das ist ein Thema, das man tief in sich vergräbt“, sagt Doris (Name von der Redaktion geändert). Kerzengrade sitzt die Mittfünfzigerin auf dem Sofa ihres gemütlich eingerichteten Wohnzimmers, ihre Augen sind auf die Zimmerdecke gerichtet. Über 30 Jahre ist es her, da wird Doris ungeplant schwanger. Sie macht zu der Zeit eine Ausbildung fern von ihrer Heimatstadt, mit ihrem damaligen Partner führt sie eine Wochenendbeziehung. „Ich wollte immer eine Familie. Aber ich habe gedacht: Jetzt muss ich alles aufgeben.“ Die junge Frau ist verzweifelt, von diffusen Ängsten geplagt: Sie befürchtet, ihre Ausbildung nicht zu Ende machen zu können, sie ist nicht verheiratet, sie macht sich Sorgen, ihre Eltern zu enttäuschen, „die immer Leistung von mir erwartet haben“.

Doris spricht mit niemandem über ihre Sorgen. Über persönliche Themen wird in ihrer Familie nicht geredet. Auch ihren damaligen Partner, der sie, wie sie heute sagt, „bestimmt nicht“ gedrängt hätte, die Schwangerschaft abzubrechen, zieht sie nicht ins Vertrauen. Doris sucht die Beratungsstelle „Pro Familia“ auf. Dort bekommen Frauen, die abtreiben wollen, den nötigen Beratungsschein für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch. „Ich weiß noch, dass ich dort geweint habe“, sagt sie heute. Eigentlich habe sie dort ein unvoreingenommenes und ergebnisoffenes Gespräch erwartet. Umfassend beraten worden sei sie jedoch nicht, erinnert sie sich. Lediglich zwei Adressen habe sie bekommen: von dem Arzt, der den Beratungsschein unterschreiben müsse, und von dem Arzt, der den Abbruch durchführen würde.

Sie spricht mit niemandem über ihre Schuldgefühle

Der Eingriff selbst findet irgendwo in Süddeutschland unter Vollnarkose statt. An das Datum, sagt Doris, kann sie sich nicht erinnern. „Es ist wie ausgelöscht.“ Nachdem sie wieder wach wurde, habe sie „stundenlang nur geweint“. Und genau wie sie die Entscheidung, ihr Kind nicht zu bekommen, mit sich allein ausmacht, genau so verhält sie sich auch in den kommenden Jahren: Sie spricht mit niemandem darüber, dass sie sich schuldig fühlt, dass sie den Abbruch bereut.

Erst ihr neuer Partner kann das ändern. „Als er mich fragte, ob ich ihn heiraten will, habe ich nur gedacht: Du kennst mich doch gar nicht. Es steht mir nicht zu, eine Familie zu haben.“ Doris offenbart sich ihm. Die beiden heiraten, Doris wird wieder schwanger. Heute haben die beiden zwei Kinder. „Sie sind mein größtes Glück.“

Vergessen jedoch kann sie nicht. Und die Trauer um das Kind, das sie nie bekommen hat, bleibt, genau wie die Schuldgefühle. „Denn heute bin ich überzeugt: Gott will jeden Menschen.“ Vor ein paar Jahren stolpert sie dann in der Zeitung über einen Artikel, der die Arbeit des Vereins „Rachels Weinberg“ beschreibt. Der Verein, der im Bistum Hildesheim zur Gemeinschaft der Charismatischen Erneuerung gehört, begleitet Frauen, die unter den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs leiden, in Form eines Einkehrwochenendes. Doris spürt, dass so ein Wochenende genau das Richtige für sie sein könnte: Sie hofft, dort auf Menschen zu treffen, die ihr Leiden ernst nehmen, und meldet sich an.

Ängste und Depressionen können die Folge sein

„Nicht alle Frauen, die abgetrieben haben, leiden unter den Folgen. Es sind schätzungsweise 30 Prozent. Aber die leiden dann wirklich“, sagt Christiane Kurpik, die verantwortliche Ansprechpartnerin von „Rachels Weinberg“ in Deutschland. Ängste oder Depressionen könnten eine Folge sein, aber auch Beziehungsstörungen, Schuldgefühle oder Wut auf sich selbst oder den ehemaligen Partner, so die 71-Jährige aus Hildesheim. An den geistlichen Wochenenden, die sie organisiert und durchführt, bekämen die Frauen in einem geschützten Rahmen oft zum ersten Mal die Gelegenheit, von ihren Erlebnissen zu erzählen, ohne in irgendeiner Form beurteilt oder bewertet  zu werden. Denn Angehörige oder Freunde äußerten oftmals nur wenig Verständnis. „Die Frauen bekommen dann zu hören: ‚Ach, das war doch nur ein Zellklumpen, kein Mensch‘.“ In der Gruppe dagegen erlebten die Frauen, dass sie nicht die einzigen sind, die leiden, so Kurpik.

Das Wochenende, das immer an einem Freitagmittag beginnt und an einem Sonntagabend endet, ist geprägt von vielen Gesprächen, therapeutischen Elementen und verschiedenen Übungen, die aufeinander aufbauen. Jede Übung ist verknüpft mit einer biblischen Stelle, etwa dem Satz Jesu „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ aus dem Johannesevangelium. Dann werde jede Frau aufgefordert, sich einen Stein zu nehmen und diesen Tag und Nacht bei sich zu tragen, bis sie bereit seien, ihre Last auf dem Altar oder vor dem Kreuz abzulegen. Auch einen Wutbrief sollen die Frauen im Laufe des Wochenendes schreiben. Das kann ein Brief an den ehemaligen Partner sein, an Vater oder Mutter, die Beratungsstelle, den Arzt oder auch an sich selbst. Besonders für Christen sei das eine sehr heilsame Übung, sagt Kurpik. „Denn die gestehen sich oft gar nicht zu, so richtig wütend zu sein. Aber die Wut blockiert sie. Sie muss raus. Erst dann kann Gott heilen.“
Auch Doris schreibt einen solchen Wut­brief. Und sie bekommt im Laufe des Einkehrwochenendes die Gelegenheit, sich im Rahmen einer Trauerfeier von ihrem Kind zu verabschieden. Sie legt eine Puppe in eine leere Wiege, liest ihrem Kind einen Brief vor, in dem sie all das aufgeschrieben hat, was sie ihm sagen will: Darin offenbart sie ihre Schuldgefühle genau so wie ihre Liebe. „In diesem Moment habe ich erlebt: Mein Kind lebt nicht auf dieser Welt, aber es hat seinen Platz bei Gott.“ Am Ende des Wochenendes feiern dann alle gemeinsam ein Auferstehungsamt, zu dem die Frauen, wenn sie mögen, auch ihre Angehörigen einladen können. Für Christiane Kurpik sind die Einkehrwochenenden vergleichbar mit der Passionsgeschichte: „Am Karfreitag kommen die Frauen hier an, schuldbeladen und traurig. Und am Ostersonntag fahren sie froh und heil nach Hause. Weil sie erleben: Gott liebt mich und Gott verzeiht mir.“

Genau diese Erfahrung habe es auch Doris ermöglicht, sich selbst zu vergeben, sagt sie. Noch immer fällt es ihr schwer, über den Schwangerschaftsabbruch zu sprechen. Nur mit ihrem Ehemann redet sie ausführlich. „Er trägt das mit dem Herzen mit.“ „Rachels Weinberg“ bleibt sie weiterhin eng verbunden. Heute begleitet Doris selbst die Einkehrwochenenden. Dafür hat sie eine für die Wochenenden erforderliche Mitarbeiterschulung besucht und sich eigens psychologisch fortbilden lassen. Genau so wichtig ist für Doris aber die gemeinsame Erfahrung. „Ich denke, diejenigen, die am meisten Verständnis für das Leid der Betroffenen aufbringen können, sind die, die es selbst erlebt haben.“

2020 führt „Rachels Weinberg“ ein Einkehrwochenenden durch: vom 4. bis 6. September bei Weinheim. Kontakt: Christiane Kurpik, Telefon 0 51 21 / 13 37 61, E-Mail: rachelsweinberg@email.de, Homepage: rachelsweinberg.de

Stefanie Behnke