Mensch, du bist frei!

Der weise Jesus Sirach sagt: Der Mensch ist frei zu tun, was ihm gefällt. Gut oder Böse – beides liegt vor ihm, er muss nur wählen. Aber ist das so einfach? Und würden ein paar klarere Regeln das Leben nicht leichter machen?

Foto: wikimedia/William Warby
Die Freiheits­statue: ein Zeichen der Hoffnung
für Unterdrückte. Foto: wikimedia/William Warby

Der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905-1997), der als einziger seiner jüdischen Familie die Konzentrationslager überlebte, lehrte nach dem Krieg eine Zeit lang in den USA. Damals hielt er auch Vorträge in Gefängnissen. Einmal bekam er von Gefangenen zu hören, sie seien es satt, sich monatlich von Psychologen sagen zu lassen: Ihr seid die Opfer, das Produkt von Kindheitskonflikten oder gestörten Familienverhältnissen; sie könnten das nicht mehr hören. Frankl sagte etwas anderes: „Ihr seid Menschen wie ich. Ihr habt die Freiheit gehabt, diese oder jene Gemeinheit zu tun oder zu lassen. Aber jetzt habt ihr auch die Verantwortung, über eure Schuld hinauszuwachsen.“ Die Gefangenen, schrieb Frankl später, hätten gesagt: „Endlich hat uns mal einer als Menschen ernst genommen.“

Auch der biblische Weise Jesus Sirach sieht das so: Ein jeder Mensch ist frei zu wählen, was er tut. Manche haben sicher schlechtere Voraussetzungen als andere, schlechtere Startbedingungen, aber das heißt nicht, dass sie dazu verurteilt wären, schlechtere Menschen zu werden. Und genau das macht die Würde des Menschen aus: dass er zuerst Täter ist und kein hilfloses Opfer der Umstände.

Das gilt nicht nur für Strafgefangene, sondern für jeden von uns. Jeder kann das Gute, das weniger Gute oder das Böse tun – meist weit unter der Schwelle der Gerichtsbarkeit. Jeder ist selbst verantwortlich, gerade in einer Zeit, in der Sätze wie „Das gehört sich nicht!“ ihren praktischen Sinn verloren haben. Nie waren wir freier in beruflichen und privaten Entscheidungen als in unserem gesellschaftlichen Klima von „nichts muss und alles kann“.

Das Erziehungsziel war: gehorchen, nicht fragen

Es gibt Menschen, die diese Freiheit bedauern. Sie möchten zurück zu klaren Regeln und Verhaltensweisen, zu „Du sollst“ und „Du darfst nicht“. So, wie es früher die Kirche getan hat, als das Gebot „Du musst sonntags zur Messe gehen“ noch reichte, damit alle kamen. Und es ist auch viel einfacher zu tun, was man eben tut. Einfacher, weil man nicht über alles nachdenken muss, aber auch einfacher, weil man dann für vieles keine Verantwortung trägt. „Ich habe nur Befehlen gehorcht“, sagten früher viele. Und tatsächlich waren sie dazu erzogen worden, Befehlen zu gehorchen: Befehlen der Eltern, der Lehrer, der Pfarrer, der Vorgesetzten. Ausführen, nicht nachfragen. Machen, nicht denken.

Dabei hat Jesus das ganz anders vorgelebt. Er hat sich massiv gegen das Das-gehört-sich-so seiner Zeit gestemmt. Zum Beispiel, indem er nicht geheiratet und keine Kinder in die Welt gesetzt hat. Oder indem er am Sabbat heilte. Oder indem er sich mit den sogenannten Unreinen an einen Tisch setzte. Das heutige Evangelium ist ein Musterbeispiel: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt wurde ... Ich aber sage euch!“ Deutlicher kann man die geltenden gesellschaftlichen und religiösen Regeln nicht unterlaufen.

Jesus hat sich aber nicht nur gegen die Konventionen seiner Zeit gestemmt, er hat auch die Freiheit der Entscheidung betont. „Kommt und seht“, schlug er den ersten Jüngern vor, nicht: „Ich befehle euch: Kommt her!“ Jesus stellte keine Regeln auf, er erzählte Gleichnisse, das vom barmherzigen Samariter zum Beispiel. Und dort, wo er scheinbar Handlungsanweisungen gibt („Schwört nicht“; „Hack deine Hand ab“), ist ihm schon klar, dass das nicht wörtlich zu nehmen ist. Wer Jesus folgt, muss selber denken und entscheiden, wie er Jesu Regeln in sein alltägliches Leben übersetzt.

Diese Aufgabe ist eine Herausforderung. In dem Roman „Die Gebrüder Karamasow“ lässt der Autor Fjodor Dostojewski einen Großinquisitor auftreten. Er klagt Jesus an, die Welt durcheinandergebracht zu haben. Es heißt dort: „Statt Dich der Freiheit der Menschen zu bemächtigen, hast Du sie vermehrt. Du wolltest, der Mensch solle in Freiheit lieben, damit er – von Dir verzaubert und gebannt – Dir freiwillig folge. Statt nach dem festen alten Gesetz sollte der Mensch hinfort in der Freiheit des Herzens selbst entscheiden, was gut und was böse ist, und nur dein Vorbild als Richtschnur vor sich haben.“

Das, sagt der Großinquisitor, habe zwei Konsequenzen: es mache erstens das Leben kompliziert, es bereite nicht Freude, sondern „der Seele Qualen“. Und zweitens: „Hast du nicht daran gedacht, dass der Mensch schließlich sogar Dein Vorbild und Deine Wahrheit ablehnen und bestreiten wird? Auf diese Weise hast Du selbst die Zerstörung Deines Reiches angebahnt, miss also niemand anderem die Schuld daran bei!“ Einige Seiten und feurige Worte weiter endet die Anklage mit einer Verurteilung: Mit seinem Ruf nach Freiheit habe Jesus Welt und Mensch nachhaltig geschadet. Hätte er auf Befehl und Gehorsam gesetzt, sähe alles besser aus. 

Ist das ein Lobpreis oder eine Schmähung?

In Dostojewskis Buch schweigt Jesus zu der Anklage. Aber einer der Gebrüder Karamasow, der fromme Aljoscha, ruft am Ende der Geschichte aus: „Aber das ist ja unsinnig! Deine Geschichte ist eine Lobpreisung Jesu und nicht eine Schmähung, wie du es gewollt hast!“

Was denken Sie: Hat Aljoscha recht? Ist die Forderung Jesu nach Freiheit im Leben und im Glauben eine Schmähung oder eine Lobpreisung wert? Und wenn es eine Lobpreisung wert ist: Was bedeutet das für den Alltag eines Christen?
Es bedeutet ganz sicher: Glauben kann man nur aus innerer Überzeugung. Eltern können Kindern vorleben, wie sie glauben, sie können Kinder in Gebet und Gottesdienst einführen. Zwingen können sie sie nicht. Auch nicht zur kirchlichen Hochzeit oder zur Taufe der Enkel.

Es bedeutet auch: Das Leben im Geiste Jesu ist schwierig. In vielen Situationen muss jeder Einzelne sein Gewissen befragen, nach dem, was richtig und was falsch ist. Im Familienleben, im Konsumverhalten, im Umgang mit Nachbarn oder Kollegen, in der Beziehung zu Gott. Die aktuellen Diskussionen um die Zukunft der Kirche sind deshalb genau richtig, denn Jesus hat nie gesagt, wie genau seine Kirche auszusehen hat.

Und es bedeutet: Jeder Mensch trägt die Verantwortung für sein Leben und sein Handeln. Das ermöglicht vieles, aber es reduziert auch die Ausreden. Wenn man tut, was man will, und nicht, was man muss, dann muss man auch dazu stehen und die Konsequenzen tragen. Vor Gott und den Menschen, vor himmlischen und irdischen Gerichten. So wie die Strafgefangenen Viktor Frankl sagten: „Endlich hat uns mal einer als Menschen ernst genommen.“ Gott tut das auch.

Susanne Haverkamp