Mit 25 km/h nach Santiago

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Zu Fuß, mit Bus, Rad, Zug, Pferd oder Auto. Vielleicht nutzen Pilger auch einen Flieger, um nach Santiago de Compostela zu gelangen. Da hat die Fahrt mit einem Traktor schon Seltenheitswert. Ein Ehepaar aus Thüringen hat‘s gewagt. Von Manuela Henkel.

Ernst und Hildegard Henkel aus dem thüringischen Geismar fuhren auf ihrer Pilgerreise mit dem Zetor 5211 und einem Wohnanhänger 5420 Kilometer. | Foto: Manuela Henkel
Ernst und Hildegard Henkel aus dem thüringischen Geismar fuhren auf ihrer Pilgerreise mit dem Zetor 5211 und einem Wohnanhänger 5420 Kilometer. Foto: Manuela Henkel

Mut zeigte Ernst Henkel aus dem thüringischen Geismar, dessen Traum es schon immer einmal war, mit seinem Traktor eine große Reise zu unternehmen. Als sein Sohn Thomas vor einigen Jahren nach Santiago de Compostela pilgerte und darüber begeistert berichtete, war das Ziel klar. Jetzt galt es, nur noch den Trecker und Ehefrau Hildegard zu überzeugen. Das Fahrzeug zeigte keine Widerstände, nur die Gattin brauchte etwas Überwindung. „Da ich aber wusste, dass meine bessere Hälfte niemals ohne mich fahren würde, erklärte ich mich einverstanden“, berichtet diese schmunzelnd.

Der Trecker muss auf Vordermann gebracht und ein Wohnanhänger angeschafft werden. Für die beiden Ruheständler spielt Zeit keine Rolle. Am 30. April ist es soweit. Mit der Muschel auf dem Heckteil des Traktors verabschieden sie sich von ihren Kindern, Enkeln und Freunden und machen sich auf die abenteuerliche Reise gen Süden auf. Mit 25 Kilometer pro Stunde.

„Bei der Fahrt über kleine Landwege kann man bei diesem Tempo erstmal richtig entschleunigen“, erzählt Ernst Henkel. „Man sieht Dinge, die man sonst mit dem Auto kaum bemerkt.“ Täglich fährt das Ehepaar mit dem Zetor 5211 etwa acht Stunden, also rund 150 Kilometer. Übernachtet wird auf Campingplätzen oder Bauernhöfen. Mit im Gepäck ist ein kleines Gebetbuch, aus dem täglich gelesen wird, und auch Kirchenlieder werden angestimmt. „Es sollte ja nicht eine Vergnügungsfahrt, sondern eine echte Pilgerreise werden“, sagt Hildegard Henkel. In der Mitte von Frankreich streikt plötzlich der sonst immer so zuverlässige Traktor.

„Ein Froststopfen hatte sich gelöst“, erklärt Ernst Henkel. Online bestellt das Ehepaar in Leipzig das Ersatzteil, das jedoch (zunächst) nicht ankommt. 13 Tage warten. Als gelernter Agrotechniker beschließt Ernst Henkel, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. „Eigentlich ist eine Reparatur an der Kopfdichtung fast unmöglich“, sagt er. Vorsichtig macht er den Kopf vom Motor ab, arbeitet die Dichtung mit Dichtungsmasse wieder ein und befestigt den Froststopfen wieder. Ehefrau Hildegard muss handlangern, da alles schnell gehen muss, bevor die Masse wieder fest wird.

Die Panne stellt sich im Nachhinein als Glücksfall heraus. In den Pyrenäen hat es ein paar Tage zuvor einen Wintereinbruch mit 30 Zentimetern Neuschnee gegeben. Wahrscheinlich wären sie stecken geblieben. „Gott lenkt eben alles immer in die richtige Richtung“, meint Hildegard Henkel. Eine weitere Pause muss das Pilgerpaar später für die Montage des Ersatzrades einlegen.

„Das Besondere an der Reise waren aber die vielen schönen Begegnungen“, stellt Ernst Henkel rückblickend fest. „Wir haben nur nette und hilfsbereite Menschen getroffen.“ Unterwegs winken die Leute, fotografieren oder halten den Daumen hoch, wenn sie das außergewöhnliche Pilgergespann sehen. Auch mit der Sprachverständigung klappt es gut – oft mit Hilfe von Händen und Füßen oder einer Übersetzungsapp.

Dagegen werden die Geismarer von einer Schlechtwetterperiode überrascht. „Ich war froh, dass ich noch dicke Decken in den Wohnanhänger gelegt hatte“, berichtet Hildegard Henkel. Während der Hinreise schauen sich die beiden zahlreiche französische und spanische Orte an. „Man muss dort noch nicht einmal Parkgebühr bezahlen, nur das Falschparken wird richtig teuer“, weiß Ernst Henkel. Besonders beeindruckend ist der Steinhügel bei Cruz de Ferro, der mit 1500 Metern der höchste Punkt des Jakobsweges Comino Francés. Das Ehepaar legt wie viele andere Pilger vor ihnen einen Stein ab.

Auf einer Steinplatte lesen die Henkels die Inschrift: „Wir sind diesen Weg für unseren Sohn gegangen, der sich im letzten Jahr das Leben genommen hat.“ Ein bewegender Moment für die Beiden. „Mir sind die Tränen gekommen“, erinnert sich Hildegard Henkel zurück. „So viele Menschen mit den unterschiedlichsten Sorgen, Nöten, aber auch Träumen und Hoffnungen unterwegs zu einem Ziel.“

Kurz vor Santiago de Compostela ist die geplante Straßenroute gesperrt. Jetzt heißt es, für zwei Kilometer auf die Autobahn abzubiegen. Schnell ist ein Stellplatz gefunden. Nach 2710 Kilometern und einem noch etwa 30-minütigem Fußmarsch ist das Ehepaar am Ziel angekommen. Sie stehen vor der Jakobuskirche. „Das Gefühl, vor dem gigantischen Bauwerk zu stehen, kann man gar nicht beschreiben“, erinnert sich Ernst Henkel zurück. Endlich geschafft. Sie besichtigen das Apostelgrab, nehmen an einer Pilgermesse teil und verfolgen staunend das Pendeln des 65 Kilogramm schweren Weihrauchfasses im Kirchenschiff – etwa 22 Meter hoch und 65 Meter weit.

Nach zwei Tagen brechen die Beiden in Richtung Heimat auf. In Pamplona wird allerdings die Polizei auf sie aufmerksam. „Wir waren mehrere Runden im nichtbeschilderten Kreisverkehr gefahren, um uns zu orientieren, da wurden wir von den Sicherheitsbeamten rausgewunken”, berichtete Ernst Henkel. Nachdem die Situation erklärt war, lotsten die Beamten sie auf den richtigen Weg. Sie machen noch einen Abstecher nach Lourdes und nehmen später auf dem bereits bekannten Campingplatz das bestellte Ersatzteil mit.

Auf einem Rastplatz malt ein Holländer ihnen noch ein Bild von ihrem Traktor. Unterwegs machen sie kurz Urlaub, bis sie nach 62 Tagen und 5420 Kilometern in Geismar ankommen.