"Die fromme Helene" wird 150

Nicht mehr nur lustig: Ein Klassiker von Wilhelm Busch

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Wenn ich ganz still bin, darf ich im Arbeitszimmer meines Vaters auf dem blauen Teppich sitzen. Ich kann noch nicht lesen, aber unter den hunderten Büchern sind zwei wie für mich gemacht. Ich werde nie müde, sie anzugucken: einen Band von Wilhelm Busch und einen Band von Loriot. Erinnerungen an einen immer wieder gelesenen, einst heiß geliebten Klassiker: die "fromme Helene" von Wilhelm Busch. Von Ruth Lehnen


Den Max und den Moritz kann ich nicht so gut leiden wie zum Beispiel meinen Liebling, Maler Klecksel, und „Die fromme Helene“. Ich habe Spaß an Helene, die sich Streiche erlaubt und Chaos produziert: Alle fallen die Treppe herunter: Helene, Hanne, die Tante mit der Kaffeekanne – „und auch der Onkel kriegt was ab!“ Das kann ich noch nicht lesen, aber sehen. Dann lerne ich lesen: Der Vetter Franz hilft Helene beim Bohnenpflücken. „Oft ist zum Beispiel an den Stangen/ Die Bohne schwierig zu erlangen. Franz aber fasst die Leiter an,/ Daß Lenchen ja nicht fallen kann.“ Ich bin zwar noch klein, aber nicht auf den Kopf gefallen: Der Franz fasst ja was ganz anderes an! „Und ist sie dann da oben fertig – Franz ist zur Hilfe gegenwärtig“: Die küssen sich! Aufpassen lohnt sich bei Wilhelm Busch. Was gesagt wird, ist nicht immer alles, was der Fall ist. Das merke ich mir.

"Es ist ein Brauch von alters her/ Wer Sorgen hat, hat auch Likör!"

Bei der „Frommen Helene“ kommen zuerst die Tiere zu Schaden: ein Frosch, Piepmätze und die Katze. Gemein, denkt sich das Kind. Aber auch interessant: Ist ja nicht echt. Ist ja Papier. Die Bildergeschichte geht fast so schnell wie ein Daumenkino. Erst ist Helene so eine propere, dann werden ihr die Haare dünn, statt des Vetters Franz bekommt sie nur den kleinen dicken Unternehmer, der stirbt, und Helene, jetzt gar nicht mehr hübsch, entwickelt eine Neigung zur Flasche: „Es ist ein Brauch von alters her/Wer Sorgen hat, hat auch Likör!“ Der Teufel kommt sie holen: Helenes Seele landet in der Hölle! Die kleine Ruth schaudert’s. Ihren Vater kümmert’s nicht: Für Erwachsene ist diese Bildergeschichte gedacht, aber Bücher, so denkt er, sind immer gut.

Drei Ausgaben von Wilhelm Buschs Bildergeschichten stehen heute in meinem Regal, dazu eine Biographie und ein vergilbter Gedichtband. Viele Verse kann ich mitsprechen. Mittlerweile weiß ich, dass die „Fromme Helene“ von 1872 ein Kind des Kulturkampfs ist, geboren, um die katholische Seite lächerlich zu machen. Der Protestant Busch hat seinen scharfen Blick auf die Schwächen der Katholiken gerichtet und viel Doppelmoral gefunden. So zum Beispiel Helenes Pilgerfahrt, von der die vormals Kinderlose schwanger zurückkommt: dank Vetter Franz! Helene mit ihrem Rosenkranz ist nicht fromm, sondern scheinheilig.

Einige Verse in der Vorrede, die ich als Kind meist übergangen hatte, da sie ohne Bilder auskommt, finde ich heute unerträglich: Vom „Jud mit krummer Ferse“ ist da die Rede, der sich zur Börse „schlängelt“, „tief verderbt und seelenlos“. Nein, das lass ich dem seinerzeit so verehrten Wilhelm Busch nicht durchgehen. Ein Antisemit ist er, und das, obwohl er selbst jüdische Freunde hatte. Sein treffender Strich, seine wegweisende Erfindung, die Bildergeschichte, die sprechen heute noch für ihn. Aber sein Blick auf die Welt ist bös: Alle Schwächen hebt er hervor und alle Figuren gibt er der Lächerlichkeit preis. Gern lacht man über sie, und spürt dann fröstelnd die eigene Schadenfreude.

"Ei ja! – da bin ich wirklich froh/ Denn Gott sei Dank, ich bin nicht so!"

Wilhelm Busch war ein begabter Maler, der sich nicht traute, mit seinen Werken in Öl hervorzutreten, ein Hagestolz, der gern den Drübersteher gab.  In der „Frommen Helene“ hat er viele Erfahrungen mit der Bankiersgattin Johanna Keßler, einer Freundin aus Frankfurt am Main, verarbeitet. Aber die Gleichung „Johanna gleich Helene“ funktioniert nicht, sonst wäre er nicht mit Johanna Keßler und deren Tochter Nanda bis seinem Tod im Jahr 1908 verbunden geblieben.

Die „Fromme Helene“, die dieses Jahr 150. Geburtstag feiert, kann ich am Ende doch empfehlen. Denn Heuchelei, Übelwollen und Selbstzufriedenheit sind hier zeitlos in Bild und Vers gebracht. Siehe Onkel Nolte, der natürlich Helenes Schicksal vorausgesehen hat und sich am Ende zufrieden die Hände reibt: „Ei ja! – da bin ich wirklich froh!/ Denn, Gott sei Dank, ich bin nicht so!“

 

Ruth Lehnen