Impuls zum Sonntagsevangelium am 21.07.2024
„Nichts ohne meinen Stab“
Foto: Erzbistum Paderborn
Herr Erzbischof, Jeremia spricht harte Worte gegen die Hirten. Verstehen Sie das auch persönlich als Warnung?
Ja. Der Text zeigt, wie ernst ich meine Verantwortung nehmen muss. Ich spüre, dass es von den Menschen im Erzbistum – den nahestehenden, aber auch den ferneren – viele Erwartungen an mich gibt. Sicher sind nicht alle zu erfüllen, aber ich will die Menschen auch nicht enttäuschen. Ich habe einen Auftrag und den will ich, so gut es geht, erfüllen.
Der Prophet Jeremia spricht im Namen Gottes. Spüren Sie die Verantwortung vor Gott?
Klar, täglich und sehr konkret. Deshalb nehme ich zum Beispiel schon morgens meinen Kalender in mein Gebet hinein. Ich bringe vor Gott, welchen Menschen und welchen Situationen ich an diesem Tag begegnen werde. Und abends frage ich mich im Gebet, wem ich gerecht geworden bin und wem auch nicht. Ich mache das in der Tradition, die sich „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ nennt. Die Betonung liegt dabei auf „liebend“: Ich mache mir den liebenden Blick Gottes bewusst, um dankbar für das Gelungene sein zu können, aber mir unter diesem Blick auch nüchtern und ehrlich das tägliche Versagen eingestehen und um Vergebung bitten zu können. Sonst würde mich die Aufgabe erdrücken.
Über gute Hirten sagt Jeremia: „Sie werden sie weiden und sie werden sich nicht mehr fürchten und nicht verloren gehen.“ Spricht Sie das an?
Sehr. Mitzuhelfen, dass die Menschen keine Angst haben müssen, gerade auch in unsicheren Zeiten, das halte ich für eine wichtige Aufgabe der Kirche. Dass sie, wie das Bild sagt, bei uns gute Weideplätze finden, also Orte, wo sie sich wohlfühlen, wo sie satt werden und gestärkt werden fürs Leben, auch spirituell. Und was das Verlorengehen betrifft: Mich belastet schon, wie viele Menschen die Kirche offenbar nicht mehr als guten Lebensraum sehen und austreten.
Im Evangelium ist Jesus der Hirte, der die Menschen lehrt. Sind es nicht zu große Schuhe, wenn Menschen die Aufgabe übernehmen?
Also, ich sage mir jetzt nicht ständig: „Ich bin an der Stelle Jesu“, das wäre wirklich zu viel. Ich sehe das einfacher: Ich bin fasziniert von Jesus als gutem Hirten – und das treibt mich an, so gut ich kann auch selbst für gute Weideplätze zu sorgen. Zumal ich als Hirte ja nicht alleine stehe. Ich habe ja meinen Hirtenstab.
Wie meinen Sie das?
Nun, jeder Bischof hat ja einen Bischofsstab. Der Hirtenstab ist ein Werkzeug des Hirten, um die Herde gut weiden zu können. Der Bischofsstab als Hirtenstab symbolisiert für mich nicht Macht, sondern den ganzen Stab von Menschen, auf die ich mich stützen kann: die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die vielen Engagierten im ganzen Erzbistum, die Ehrenamtlichen in den Gremien, auch die Kollegialität der anderen Bischöfe, in der Bischofskonferenz und der Weltkirche. Deshalb sage ich: Es geht nichts ohne meinen Stab. Das gemeinsame Verantworten ist etwas, das hilft.
Hirt und Herde. Einer geht voran, die anderen folgen ihm: Ist das heute eigentlich noch ein passendes Bild für die Kirche?
Wenn Jesus heute leben würde, würde er vielleicht ein anderes Bild aus unserer heutigen Lebenswelt wählen – wobei die Frage spannend wäre, welches. Aber unser Problem mit seinem Bild ist, dass wir es so einseitig betrachten. Wir schauen nur auf diese Unter- und Überordnung und finden das für heute nicht mehr passend. Als Jesus von Hirt und Herde gesprochen hat, hat er aber nicht an Hierarchie oder Organisationsentwicklung gedacht.
Sondern woran?
An Beziehung. Ein Hirt bewacht seine Herde nicht, er lebt mit ihr. Er sitzt nicht im warmen Haus, während die Herde auf der Weide friert. Jesus hat sicher daran gedacht, dass der Hirte sich jederzeit kümmert. Dass er dafür sorgt, dass es allen gut geht, dass alle gesund sind und frisches Gras zu fressen haben, dass sie sicher leben, vor Gefahren geschützt sind. Und dass Hirt und Herde sich wirklich gut kennen, sich nah sind und einander vertrauen.
Denken Sie, dass die Kirche beim realen Hirtenamt in dieser Spur ist?
Natürlich muss man sich immer fragen, ob die Hirten bereit sind, sich schmutzig zu machen, oder lieber frisch geduscht im Wohnzimmer sitzen, um im Bild zu bleiben. Aber insgesamt, denke ich, besteht heute eine viel engere Beziehung zwischen dem Bischof und den Menschen in seiner Diözese als noch vor ein paar Jahrzehnten. Wenn wir in die Gemeinden kommen, dann geht es nicht um den großen Bahnhof: Festmusik, Blumen und Grußworte. Die Leute sagen offen und ehrlich, was sie denken, wo die Probleme liegen in der Kirche und der Gesellschaft. Da steht man auch in Wind und Regen, um im Bild des Hirten zu bleiben. Und sie merken, ob ihre Hirten wirklich zuhören und sich interessieren oder nur so tun.
Überlegen es sich deshalb viele gut, wenn sie Bischof werden sollen?
Grundsätzlich ist es ja nie einfach, in Krisenzeiten eine Führungsaufgabe zu übernehmen – und die Kirche ist unverkennbar in der Krise. Außerdem steht man als Bischof mehr denn je in der medialen Öffentlichkeit und die entfaltet ihre ganz eigene Dynamik. Aber tatsächlich ist vielleicht das das Schwierigste: dass formale Autorität, Autorität qua Amt, heute nicht mehr zählt. Anerkennung und Autorität muss sich ein Hirte heute durch sein Verhalten, durch seine theologische, geistliche, pastorale und kommunikative Kompetenz verdienen. Das ist mühsam. Aber wenn es gelingt, ist es umso wertvoller.
Zur Person: Udo Bentz (57) absolvierte eine Banklehre, bevor er Theologie studierte und 1995 zum Priester geweiht wurde. Er war bischöflicher Sekretär von Bischof Karl Lehmann und leitete das Mainzer Priesterseminar. 2015 wurde er Weihbischof im Bistum Mainz, 2017 zusätzlich Generalvikar. Seit März diesen Jahres ist Bentz Erzbischof von Paderborn.