Hinaus, soweit der Akku hält

Pilgern mit dem E-Bike

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Von einer besonderen Wiese, einer Bergkirche und einem Besuch bei der heiligen Lioba in Schornsheim. Von Ruth Lehnen

Unruhe hat mich erfasst. Lange genug, wochenlang im Home-Office gesessen. Jetzt braucht es Bewegung. Ein flüchtiger Blick in den Fahrradführer, und die grobe Richtung steht fest. Es darf die Kirchentour sein, in der Nachbarschaft, die doch manchmal die unbekannte Landschaft ist. Strampeln und hoffen, dass der Akku reicht – das ist die begrenzte Freiheit der E-Bike-Fahrerin.

Strampeln und hoffen, dass der Akku reicht – ist so nicht auch das ganze Leben in der Corona-Zeit? Wie wohltuend ist da die frische Luft, wie strahlend blau ist der Himmel. Es geht an der Selz entlang, am Selztalradweg, und da komme ich an der „Heljewies“ bei Sörgenloch vorbei. Hier, auf der heiligen Wiese, war 1690 das Gnadenbild „Mutter mit Kind“ vergraben worden. Man hatte Angst, es könnte zerstört werden. Auf einer Stele hat die Pfarrgemeinde eine Infotafel bereitgestellt, sogar mit QR-Code, und ich werde sehr neugierig auf die Madonna, die aus der Erde kam. Heute hat sie ihren Platz im Hochaltar der Sörgenlocher Kirche wieder. Nebenbei erfahre ich, dass die Kirche mit ihrer Madonna die älteste Marien-Wallfahrtskirche des Bistums Mainz sei. Seit 1225 pilgern die Menschen zu diesem Gnadenbild. Und die heilige Wiese? „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen,“ heißt es auf einer weiteren Stele. Das rührt mich an. Ich nehme mir vor, der Madonna auf dem Rückweg einen Besuch abzustatten. Fürs Erste bin ich fündig geworden, ohne gesucht zu haben. 

Udenheimer Bergkirche
Aus der Udenheimer Bergkirche stammt das berühmte Udenheimer Kreuz, das im Mainzer Dom viele Beter anzieht. Foto: Ruth Lehnen

Ich fahre Richtung Udenheim, immer darauf bedacht, Udenheim und Undenheim nicht zu verwechseln. Weil die Vorbereitung flüchtig war, bin ich überrascht, dass mitten in den Weinbergen, ganz einsam gelegen, eine große Kirche steht, mit hohen Chorfenstern. Da gönne ich mir eine Abschweifung, das muss ich mir ansehen. Es ist die evangelische Bergkirche. Im Innern gibt es, sagt das Internet, Wandmalereien aus der Zeit um 1300, die Adam und Eva und Kain und Abel zeigen, aber die Kirche ist zu. Der Friedhof allein ist den Aufenthalt wert. Ich begrüße einen stehenden Christus aus Stein, der seit langer Zeit den Blick in die rheinhessischen Anhöhen genießt, und sinne nach über die Inschrift auf einem Grabstein: „Als Gatte, als Vater, als Freund ruht hier, von vielen beweint, ein Mann, der Tugend stets übte, und Treue und Redlichkeit liebte!“ Was für eine schöne Nachrede. Erst am Abend dieses Tages begreife ich beim Googeln richtig, wo ich gewesen bin: Dort, wo das Udenheimer Kreuz herstammt, das in der Gotthard-Kapelle des Mainzer Doms der Blickfang der Betenden ist. Das uralte Kreuz, von dem ich meinte, es müsse immer schon im Dom gewesen sein (den Namen „Udenheimer Kreuz“ hatte ich nicht weiter beachtet), ist erst im Jahr 1962 vom Bistum Mainz angekauft worden. Auf Tour in Rheinhessen lerne ich mehr über die Mainzer Bischofskirche!

Was die heilige Lioba betrifft, bin ich nicht ganz so unwissend. Sie war eine Verwandte des Bonifatius, sie war Klöstergründerin. Im Bistum Fulda ist sie sehr bekannt. Rudolf von Fulda hat im Jahr 836 ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben: „Als Lioba alt und gebrechlich wurde ... zog sie sich nach Schornsheim vier Meilen südlich von Mainz zurück. Dort blieb sie mit einigen ihrer Schwestern und diente Gott Tag und Nacht in Fasten und Gebet.“ Rudolf erzählt von einer Begegnung zwischen Lioba und Hildegard, der Frau Karls des Großen. Als die alt gewordene Lioba ihre Freundin wiedersah, verabschiedete sie sich von ihr: „Leb wohl, meine zärtlich geliebte Herrin und Schwester, leb wohl, bessere Hälfte meiner Seele.“ Danach ging Lioba nach Schornsheim zurück, wo sie im September 782 starb: „Dann legte sie ihren irdischen Leib ab und gab ihre Seele fröhlich ihrem Schöpfer zurück ...“. In Rheinhessen bleibt sie in Erinnerung durch eine Bronzefigur mitten im Ort – Lioba steht jetzt hier am Brunnen und begrüßt alle, die nach Schornsheim kommen.

Figur Heilige Lioba
Die heilige Lioba starb 782 in Schornsheim, hier erinnerte eine Skulptur an die Gefährtin des heiligen Bonifatius. Foto: Ruth Lehnen

Der Ort hat für pilgernde Entdecker aber noch mehr zu bieten: Die Kirche St. Wigbert mit ihrer langen Geschichte liegt idyllisch unter Bäumen, und auch hier zieht einen der Friedhof magisch an. Es sind dort etliche alte jüdische Gräber zu finden. Was ist pilgern, was ist beten? Kann es nicht auch das Verharren vor einem der Grabsteine sein, deren Marmor schon von Flechten besiedelt wird? Kann es nicht heißen, die Trauer zu spüren, dass so viele jüdische Rheinhessen nicht einmal ein Grab haben?

Schrilles Kreischen einer Säge reißt mich aus den Gedanken. So langsam muss ich mich auf den Rückweg machen. Der führt mich durch Friesenheim. Dort kann ich es nicht lassen, in die Kirche St. Walburga hineinzuschauen, habe ich doch eine Cousine, die Walburga heißt. In St. Walburga stellt die Küsterin gerade frische Blumen an den Altar. Ich zünde eine Kerze an für meine Cousine und all die anderen, die mir durch den Sinn gehen. St. Walburga hat einen ungewöhnlichen Kreuzweg: Es sind originelle, kleine, fast schon naive Bilder der Malerin Ruth Spar-Mühlendyck. Auf den Bildern haben einige Pflanzen einen großen Auftritt, und das kommt bei Kreuzwegen ja selten vor.

Bevor ich, wie versprochen, der Maria mit Kind in Sörgenloch noch einen Besuch abstatte, werde ich wieder abgelenkt: ein Geschnatter, ein Geschrei, ein Tirilieren und Flügelschlagen, ein Wasserplatschen und auch Quaken zieht mich an. An dieser Stelle der Selz gibt es ein Paradies für Vögel, ein Schutzgebiet. Da ich kein Fernglas eingepackt habe, habe ich nur von Weitem an dem Schauspiel der auffliegenden Vögel teil. Es ist ein so lautes Treiben, dass ich fast lachen muss: Hat sich Gott unsere Erde so vorgestellt? So munter? Und was haben wir damit angestellt, dass es sonst auf dem Weg überall so still war, dass ich kaum Vögel gesehen habe? Ja, Entschuldigung, ihr Krähen, natürlich außer Euch. Eine Weile höre ich dem Konzert zu, dann heißt es, mit kritischem Blick auf den Akku, weiterzufahren.

Madonna Sörgenloch
Madonna in der Kirche von Sörgenloch Foto: Ruth Lehnen

Die Madonna mit Kind in der Sörgenlocher Kirche thront schön und strahlend auf ihrem goldenen Bänkchen. Kaum zu glauben, dass es dieselbe sein soll, die in der Erde vergraben war. Ich bin nun schon müde und sitze ermattet auf der Kirchenbank. Dem kleinen Sebastian mit seinen Pfeilen gönne ich noch einen genaueren Blick, weil es in einem ausliegenden Zettel heißt, er sei als Heiliger gegen Seuchen angerufen worden. Ach, Sebastian, dann tu doch was gegen Corona, denke ich, allein, da fehlt mir doch der Glaube.

Ruth Lehnen