Peter Beer zu Missbrauchsskandal der Kirche

Rücktritt kann Sühnezeichen sein

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Peter Beer ist Professor am Kinderschutzzentrum der Päpstlichen Universität Gregoriana. Er erklärt, wie die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals gelingen kann, welche Verantwortung Bischöfe dabei tragen – und was dafür wie dagegen spricht, dass sie ihren Rücktritt anbieten.


Demonstranten der Opfervereinigung „Eckiger Tisch“ protestieren im Eröffnungsgottesdienst der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im März 2020 im Mainzer Dom.

Von Peter Beer 

In den letzten Jahren ist unbestritten viel passiert in Sachen Missbrauch. Dies gilt vor allem im Blick auf vielfältige Präventionsmaßnahmen im Sinne der Verhinderung von Missbrauch. Hinsichtlich der Aufarbeitung von geschehenem Missbrauch ist aber noch einige Luft nach oben. Was hier zu tun ist, muss sich an dem ausrichten, was die Betroffenen brauchen und einfordern, um mit dem, was ihnen geschehen ist, irgendwie abschließen zu können.

In diesem Zusammenhang und aus dieser Perspektive gehören unter anderem folgende Elemente zu einer gelingenden Aufarbeitung: Betroffenen von sexuellem Missbrauch wird zugehört, sie werden wahrgenommen mit ihrer Leidens- und der damit zusammenhängenden Lebensgeschichte. Betroffene können, wenn sie es wollen, ihren Tätern in das Gesicht sehen, sie mit den Folgen ihrer Taten konfrontieren. Betroffene werden nicht hingehalten, wenn sie wissen wollen, wer den Tätern geholfen hat, ihre Taten zu vertuschen oder herunterzuspielen. Betroffene erleben, dass Täter und deren Helfershelfer zur Rechenschaft gezogen werden; dass sie Sühne leisten und Buße tun. Betroffene erleben eine Institution, die sich ihrer Verantwortung stellt und sich nicht gesichtslos hinter formalen Vorgängen versteckt. Sie erleben sich selbst als wirkmächtig, indem durch ihre Intervention Veränderungen in der Institution geschehen, damit sich das, was sie erlebt haben, nicht wiederholt.

Gewährleister und Garanten

Eine in diesem Sinne gelingende Aufarbeitung braucht im Wesentlichen zwei entscheidende Dinge. Zum einen braucht es eine klare Kenntnis der Faktenlage (zum Beispiel durch entsprechende Gutachten über Täter und Vertuscher) statt übereilter Sprüche über Vergeben und Verzeihen, die letztendlich dann nur als fromme Sauce das Schmiermittel für das Funktionieren fortgesetzter Vertuschung sind. Zum anderen braucht es die Bereitschaft und auch die Fähigkeit zu echter personaler Zuwendung, die Wertschätzung zum Ausdruck bringt sowie die Begegnung auf Augenhöhe und ein aufrichtiges Ringen um Sünde beziehungsweise Schuld, Vergebung und Neuanfang ermöglicht. 

Der Prozess der Aufarbeitung ist für alle Seiten anstrengend. Gerade auf Seiten jener Institution beziehungsweise Organisation, in deren Verantwortungsbereich Missbrauch geschehen ist und vertuscht wurde, ist die Tendenz zum Aussitzen, Hinausschieben, Verzögern nicht zu leugnen. Den Tatsachen direkt ins Auge zu sehen, wirkt desillusionierend, lähmend, ist enttäuschend. Konflikte mit denen, die man schon seit Jahren kennt, vielleicht sogar eng zusammenarbeitet und die sich als Täter oder Vertuscher entlarven, scheut man. Die Begegnung mit Betroffenen fordert persönlich heraus. Jeder der auch nur einen Funken an Empathie hat, wird mit einer Welle von Schmerz, Trauer und Wut konfrontiert, die beschämt und zunächst ratlos macht.

Gerade weil dem so ist, braucht es Gewährleister und Garanten dafür, dass Aufarbeitung nicht nur angegangen wird, sondern auch gelingt. Sie sollen Ausweichtendenzen entgegentreten, Verzögerungstaktiken durchkreuzen. Sie müssen gewährleisten, dass den Tatsachen auf den Grund gegangen wird, Ursachen und Zusammenhänge offengelegt werden sowie die Rechte und die Würde der von Missbrauch Betroffenen soweit als möglich wiederhergestellt werden.

Moral und Kompetenz

In der katholischen Kirche sind unbeschadet der Verantwortlichkeiten auch vieler anderer eigentlich die Bischöfe jene Gewährleister und Garanten. Sie sind die sogenannten Oberhirten. Ihnen ist – wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt – „die höchste, volle, unmittelbare und universale Seelsorgsgewalt anvertraut“. Um sie versammelt sich die jeweilige Ortskirche, die der Bischof lehrt, leitet und heiligt. Die Bischöfe sind das Gesicht einer Diözese.

Umso verheerender wirkt es sich aus, wenn Bischöfe ihrer Garanten- und Gewährleistungsfunktion nicht entsprechen können, sei es, weil sie diesbezüglich grundsätzlich moralisch diskreditiert sind, sei es, weil sie sich einfach als hartnäckig inkompetent erweisen. Moralisch diskreditiert wäre ein Bischof, wenn er immer wieder, mit Vorsatz gegen weltliches und kirchliches Recht verstoßend, im Widerspruch zu grundsätzlichen kirchlichen Handlungsmaximen (wie zum Beispiel Ehrlichkeit, Fürsorge für die Kleinen und Schwachen) vertuscht hätte oder im schlimmsten Fall selbst zum Missbrauchstäter geworden oder durch anderes gravierendes Fehlverhalten erpressbar wäre. Zumindest für die in Rede stehende Aufgabe kann sich Inkompetenz dadurch zeigen, dass sich ein Bischof nicht nur psychisch in und mit der Krise völlig überfordert fühlt, sondern mehr oder weniger durchgängig unfähig ist, mit Betroffenen angemessen direkt umzugehen, im Aufarbeitungsprozess kommunikativ für Transparenz zu sorgen, wichtige Funktionsstellen in der Diözese mit qualifiziertem Personal zu besetzen, gegenüber externen Beratern Selbststand zu zeigen, eindeutige Entscheidungen gemäß klar gesetzten politischen Vorgaben zu fällen und durchzusetzen, Konflikte konstruktiv auszutragen etc. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch eine ausreichende Beschäftigung mit und Akzeptanz von basalem Fachwissen in Sachen Missbrauch.

Nicht alles inadäquate Verhalten im Kontext Aufarbeitung ist immer gleich Rücktrittsgrund. Fehler sind unvermeidlicher Bestandteil menschlichen Handelns und Denkens. Dennoch sollte der Hinweis auf Fehler als Entschuldigung für Versagen in Sachen Aufarbeitung eher die Ausnahme sein. Jeder begangene Fehler hat Auswirkungen auf andere Menschen. Fehler bedeuten hier eine Verlängerung der Zeit, in der nicht mit erfahrenem Missbrauch abgeschlossen werden kann; die Ungewissheit hinsichtlich der Verantwortlichkeiten; eine weitere Narbe auf der Seele Betroffener durch das Gefühl, nicht richtig wahrgenommen zu werden.

Fehler in Sachen Aufarbeitung sind eigentlich nur unter zwei Mindestbedingungen verzeihbar. Erstens: Diejenigen, die Fehler gemacht haben, zeigen ansonsten die richtige Einstellung, zeigen persönlichen Einsatz für die Sache und das redliche echte durchgängige Bemühen, Aufarbeitung voranzubringen. Zweitens: Diejenigen, die Fehler gemacht haben, zeigen die Bereitschaft, wirklich etwas dazuzulernen. Dies kann sich zum Beispiel dadurch zeigen, dass sie bei der Untersuchung der gemachten Fehler und der daraus erwachsenen Folgen aktiv mitarbeiten; dass sie sich von einem entsprechend qualifizierten Gremium in ihrem Handeln regelmäßig kontrollieren und supervidieren lassen sowie dementsprechenden Berichtspflichten nachkommen.

Peter Beer (55) lehrt und forscht seit 2020 als Professor am Kinderschutzzentrum (CCP) der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.
"Jeder, der auch nur einen Funken an Empathie hat,
wird mit einer Welle von Schmerz, Trauer und Wut konfrontiert,
die beschämt und zunächst ratlos macht", sagt Peter Beer über
den Kontakt mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs. 

Rücktritte – pro und contra

Eine gelingende Aufarbeitung von Missbrauch im Verantwortungsbereich der Kirche ist für diese existenziell. Ohne gelingende Aufarbeitung verliert die Kirche ihre Glaubwürdigkeit, droht die Rede vom liebenden Gott und seiner frohen Botschaft angesichts der unaufgearbeiteten Verbrechen des Missbrauchs zum leeren Geschwätz zu verkommen. So gesehen kann sich die Kirche ein Versagen in diesem Bereich nicht leisten. Es braucht signifikante Maßnahmen, die unmissverständlich zeigen: Wir meinen es ernst mit Aufarbeitung.

Haben die Gewährleister und Garanten von Aufarbeitung ihre Aufgabe grundsätzlich nicht erfüllt und sind sie dazu weder gegenwärtig noch voraussichtlich zukünftig in der Lage, dann bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Im einen Fall wird die Aufarbeitung durch externe (zum Beispiel staatliche) Stellen gewährleistet. Dies bedeutet, dass der Kirche das Heft des Handelns (zu Recht) aus der Hand genommen werden würde und damit die kirchlichen Gewährleister so desavouiert sind, dass sie für eine weitere Verwendung in solchen Positionen kaum infrage kommen dürften. Im anderen Fall ziehen die in die Schusslinie gekommenen bisherigen Amtsinhaber von selbst die Reißleine und bieten ihren Rücktritt an, um einen Neuanfang in Sachen kirchlich verantworteter sowie garantierter Aufarbeitung zu ermöglichen. 

Es kann aber auch Situationen geben, in denen Rücktrittsangebote angezeigt sind, obwohl den bisherigen Amtsinhabern weder persönliche Schuld noch persönliches Versagen nachzuweisen sind. In diesen Fällen würde derjenige, der seinen Rücktritt anbietet, stellvertretend für die Institution Kirche Verantwortung übernehmen. Diese Sühneleistung Einzelner würde verhindern, dass der Eindruck entsteht, die von Missbrauch Betroffenen stünden einem gesichts- und gefühllosen anonymen Apparat gegenüber, der ungerührt von ihrem Schicksal einfach weiterfunktioniert. Ein solches Sühnehandeln sollte zumindest dann bedacht werden, wenn von den eigentlich Schuldigen, seien es nun Täter oder Vertuscher, keiner mehr ermittelt werden kann oder diese bereits alle verstorben sind.

Ein Rücktrittsangebot in diesem Kontext würde zwar einen gewissen Widerhall im stellvertretenden Sühnetod Jesu am Kreuz für die Vergehen der Menschheit finden und damit auch den Gedanken der Nachfolge Christi in besonderer Weise aktualisieren. Dennoch tun sich einige mit so einer Überlegung schwer. Ihr Einwand gegen so auch im weitesten Sinne begründete Rücktrittsgesuche ist pragmatischer Natur. Sie fragen sich: Trifft es hier nicht die Falschen und könnten nicht gerade diese, die ein so großes Verantwortungsgefühl zeigen, dass sie auch ohne persönliches Verschulden beziehungsweise Versagen zurücktreten würden, noch so viel Gutes tun? Werden denn nicht gerade solche Führungskräfte gebraucht? Wer soll sie ersetzen?

Dem lässt sich relativ prägnant entgegnen, dass, wenn man so denkt, sich auch Jesus nicht hätte ans Kreuz schlagen lassen dürfen. Er hätte ja auch noch so viel Gutes tun können. Letztendlich geht es eben nicht um Pragmatik, sondern um Verantwortung und um das Füreinandereinstehen, gelebte Solidarität und tatsächliche Weggemeinschaft mit denen, die an den Rand gedrängt, stimmlos gemacht und ihrer Würde beraubt wurden. Rücktritt bedeutet immer auch das Aufgeben von Lebensplänen, das Inkaufnehmen von Angewiesensein auf andere, die Abhängigkeit von der Gunst anderer, wenn es darum geht, die Zukunft neu zu gestalten. Alles Erfahrungen, die vom Missbrauch Betroffene hart durchleben, aber die Zurückgetretenen wenigstens ansatzweise teilen würden.

Und weil wir schon bei Pragmatik und Christusnachfolge sind: Die Ablehnung, selbst ein Rücktrittsangebot einzureichen, nur mit dem Hinweis darauf, dass man ja dann wichtige Aufgaben (vielleicht sogar im Bereich der Aufarbeitung) nicht mehr leisten könne, geht von der eigenen Unersetzlichkeit in einem Maße aus, das mit anderen christlichen Grundhaltungen schwer vereinbar sein dürfte: der Bescheidenheit im Blick auf die eigene Bedeutung; der Demut vor dem Wirken Gottes, der durchaus in der Lage sein dürfte, auch durch andere als einen selbst zu handeln; dem Vertrauen in die vielen Schwestern und Brüder im Glauben, die gemeinsam wichtige Anliegen weitertragen.

Ein ähnlich relativ schwaches Argument gegen ein Rücktrittsgesuch wie jenes von der eigenen Unersetzlichkeit ist der alleinige Hinweis darauf, dass ein Rückzug vom Amt nur die Flucht davor wäre, die Konsequenzen von Versagen in der Gewährleistungs- und Garantenfunktion zu tragen. Der Rücktritt ist nämlich bereits die angemessene Konsequenz aus dem Versagen, noch dazu, wenn er mit nachhaltigem Privilegien- und Prestigeverlust verbunden ist. Ein Rücktritt schließt außerdem nicht aus, dass man weiter einen Beitrag zur Aufarbeitung leistet, verhindert aber durch Personalwechsel, dass das Versagen auf verantwortlicher Ebene dauerhaft seine Fortsetzung erfährt.

Zukunftsoptionen

Die Suche nach Antworten auf die Frage „Rücktritt Ja oder Nein?“ verlangt einen komplexen Selbstprüfungs- und Abwägungsprozess. Letztendlich muss diese Frage in eigener moralischer Verantwortung jeder Bischof als Garant und Gewährleister des Aufarbeitungsprozesses selbst beantworten (ein Rücktritt ist schließlich kein Amtsenthebungsverfahren). Damit dies nicht zur unendlichen Geschichte verkommt und eine für alle unerträgliche Hängepartie wird, sollte man Hilfe in Anspruch nehmen. Dies kann der gemeinsame Rat und das offene transparente Gespräch aller (gewählten) Gremien (zum Beispiel Betroffenenbeirat, Diözesanrat, Priesterrat, Berufsgruppenvertreter) sein, aber auch der bischöflichen Mitbrüder.

Wahrscheinlich wäre es ein beeindruckendes Zeichen von Ernsthaftigkeit in Bezug auf die Wahrnehmung der angesprochenen Gewährleister- und Garantenrolle, wenn die Bischöfe selbst gemeinsam im Konsens jene Kriterien festlegen, anhand derer ihrer Meinung nach feststellbar ist, wann ein Rücktrittsangebot angezeigt ist. Je offener und transparenter darüber gesprochen wird, desto stärker könnte die Autorität im Leitungsamt sein.

Zur Person

Peter Beer (55) lehrt und forscht seit 2020 als Professor am Kinderschutzzentrum (CCP) der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Der promovierte Theologe und Pädagoge hat lange Zeit als Ausbilder, Berater und Dozent von Erziehern und Mitarbeitern in der Kindererziehung sowie als Honorarprofessor für Religionspädagogik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benediktbeuern gearbeitet. Bis Ende 2019 war Beer Generalvikar der Erzdiözese München und Freising.