Krankenmorde im Nationalsozialismus

Sein Onkel war eines der Opfer

Matthias Warnking Gedenkstätte

Foto: Michael Rottmann

Matthias Warnking hat mitgeholfen, dass eine „Gedenkstätte für die Menschenwürde“ an Opfer der Euthanasie erinnert.

Wegen seiner Behinderung wurde Albert Warnking 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen bei Oldenburg ermordet. Sein Neffe Matthias ist heute Geschäftsführer einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Er hat ein Denkmal für die Opfer der Euthanasie in der NS-Zeit mit auf den Weg gebracht.

Er gehörte fest zur Familiengeschichte: der taubstumme Bruder seines Vaters, eines von dessen 16 Geschwistern. Immer mal wieder hatte der Vater von dem Onkel und seinem Schicksal erzählt: dass er in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen bei Oldenburg umgekommen sei. Todesursache: Tuberkulose. So hieß es jedenfalls.

„Mein Vater vermutete aber, dass er in Wehnen für medizinische Versuche benutzt worden ist. Dass man ihm vielleicht Tuberkulose-Erreger injiziert haben könnte“, sagt Matthias Warnking und erinnert sich gut an die Traurigkeit, wenn von Onkel Albert die Rede war – die Trauer über das Leid, das man dem jungen Mann angetan hatte.

Was damals geschehen ist? Ganz genau weiß man es bis heute nicht. Auch wenn der Neffe in etwa zehn Jahren Spurensuche mittlerweile viele Mosaiksteine zusammengetragen hat: Briefe, Krankenakten und auch das Formular, mit dem der Bruder seines Vaters für das Euthanasie-Programm gemeldet worden war.

Warnking hatte einen Vortrag über die Geschichte der Anstalt in Wehnen gehört, insbesondere über die Krankenmorde während der NS-Zeit. „Darüber wollte ich mehr wissen“, sagt er. Zum Beispiel, was denn dran ist an den Geschichten, die er zu Hause über seinen Onkel gehört hatte.

Also arbeitete er sich nach und nach in das Thema ein – und stieß in den Verzeichnissen schnell auf den Namen: Albert Warnking, geboren 1917, gestorben 1941. Er forderte beim Staatsarchiv weitere Akten und Unterlagen an und las sich immer tiefer ein in dessen kurzes Leben. „Das war schon sehr, sehr bewegend“, erinnert sich der 59-Jährige.

Es begann mit der Überführung seines Onkels aus dem katholischen St. Josefshaus Waldbreitbach nach Wehnen. Im Rheinland hatten die frommen Eltern zunächst einen Platz für ihren taubstummen Sohn gefunden. Bis die Nationalsozialisten 1934 den damals 17-Jährigen abholten und nach Wehnen bringen ließen.

Gut kann sich Matthias Warnking die Not des jungen Mannes vorstellen, als der sich den Ärzten und Pflegern bei der Aufnahme in der Heil- und Pflegeanstalt vergeblich verständlich zu machen versuchte. Anfangs ruhig und freundlich, so wird er in den Beschreibungen aus der Krankengeschichte beschrieben. „Arbeitet im Haus regelmäßig mit“, heißt es da. Und noch 1937: „Ist auf der Station behilflich.“

Ab 1939 jedoch änderten sich die medizinischen Bewertungen und Diagnosen. Mutmaßlich als Folge eines Wechsels an der Spitze der Anstalt Wehnen wurde der Ton rauer. Und 1940 fand sich Albert Warnkings Name auf einem der Meldebögen für die NS-Euthanasie-Zentrale in Berlin.

Matthias Warnking hat all die Dokumente und Befunde gelesen. All die Diagnosen in nüchternem Amtsdeutsch: „Leistet nicht viel.“ Oder: „Idiotie“. Und: „Nicht mehr arbeitsfähig.“ Diese Bewertung sei letztlich zum Todesurteil für seinen Onkel geworden: „Dann hat er nicht mehr die lebensnotwendige Ernährung bekommen. Und das bedeutete, dass er verhungern musste.“ Ermordung durch gezielte Unterernährung. So wie es damals rund 200 000 Menschen in Deutschland erging, die wie Albert Warnking dem systematischen NS-Euthanasieprogramm zum Opfer fielen. Adolf Hitler hatte mit dem sogenannten „Gnadentod-Erlass“ diese Morde an Menschen mit Beeinträchtigungen befohlen. Allein in Wehnen kamen auf diese Weise 1500 Patientinnen und Patienten ums Leben.

„Eine positive Botschaft für die Zukunft“

Unfassbar das alles. Gerade für jemanden, der tagtäglich mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu tun hat. Als Geschäftsführer des Andreaswerks im oldenburgischen Vechta leitet Matthias Warnking eine Caritas-Einrichtung mit Plätzen für mehr als 2200 Menschen mit und ohne Handicap, etwa in Werkstätten, verschiedenen Wohnangeboten, Schulen und Kindergärten.

Auch deshalb war er sofort Feuer und Flamme, als beim Andreaswerk die Idee aufkam, für die Opfer der NS-Krankenmorde ein besonderes Mahnmal zu schaffen. Anfang September konnte die „Gedenkstätte für die Menschenwürde“ offiziell ihrer Bestimmung übergeben werden. Dort wird unter anderem mit einer Stele mit den Namen an die 88 Menschen aus dem Landkreis Vechta erinnert, die wie Albert Warnking in Wehnen systematisch umgebracht wurden. 

„Es geht um das Erinnern, um das Mahnen und das Werben für die Menschenwürde“, sagt Matthias Warnking. „Wir geben den Opfern ein Gesicht, indem wir die Namen nennen, von ihrem Schicksal berichten und die geschichtlichen Hintergründe beleuchten.“ Es gehe darum, den Opfern ihre Würde zurückzugeben, sagt der Andreaswerk-Geschäftsführer und erklärt: „Für mich ist der Mensch Bild Gottes. Und in jedem Menschen steckt ein Funke Göttliches. Genau das ist seine Würde.“

Doch er betont auch, dass es ihm um noch mehr gehe: „Es muss auch eine positive Botschaft für die Zukunft haben.“ Deshalb sei die Gedenkstätte kein Abschluss eines Prozesses, „sondern ein Meilenstein“. Denn das Projekt erinnere mit Infotafeln über die geschichtlichen Hintergründe und einem Begleitbuch auch daran, „dass unsere Demokratie und Menschenrechte aktiv verteidigt werden müssen“. Weil es heute wichtiger denn je sei, „dass wir das als Gesellschaft nicht vergessen und der Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen keinen Raum lassen“.

Hat seine Beschäftigung mit dem Thema für ihn etwas bewirkt? Matthias Warnking sagt, durch seinen Berufsalltag wisse er, dass auch heute Menschen mit Behinderung schnell dem Willen anderer ausgeliefert sind: „Sie mit ihren Bedürfnissen noch intensiver wahr und ernst zu nehmen – das ist etwas, was es bewirkt hat.“

Michael Rottmann