Sensibilisieren für antisemitische Denkformen

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„Gedenkstätte Synagoge“ im ostfriesischen Dornum
Nachweis

Foto: Rien van der Vegt

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An den Bildungsreisen der Hamburger GCJZ – wie hier zur „Gedenkstätte Synagoge“ im ostfriesischen Dornum – kann jeder teilnehmen.

Kürzlich beging die Hamburger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (GCJZ), ihr 70-jähriges Bestehen. Sie ist eine von 80 dieser Organisationen in Deutschland. Im Interview äußert sich der Theologe Prof. Thomas Hoppe, der die katholische Seite im Vorsitz vertritt, zur Bedeutung
dieser Gesellschaften.

Worin sehen Sie die bedeutendste Rolle der GCJZ im Bereich des Erzbistums Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg?

So wie es für alle Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gilt, stand und steht im Zentrum ihrer Arbeit, gegen antijüdische und antisemitische Einstellungsmuster Stellung zu beziehen. Diese haben leider eine lange Tradition, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Keineswegs entfaltete sie erst mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus ihre verhängnisvolle Wirkung. Vielmehr haben jahrhundertealte christlich-theologische Ressentiments wesentlich dazu beigetragen, solche Einstellungen zu verbreiten. Sie bereiteten der Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden in Deutschland und den von ihm zeitweise besetzten Ländern den Boden und ließen viele Deutsche zu Beteiligten an diesem Völkermord werden. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Überwindung solcher Denkformen als eine Aufgabe erkannt, die auch die Kirchen zentral anging, wenngleich sie nur allmählich von ihnen akzeptiert und bejaht wurde.

Inwieweit brachten sich dabei Katholiken oder die katholische Kirche ein?

Von großer Bedeutung ist bis heute die Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum, die das Zweite Vatikanische Konzil 1965 mit seiner Erklärung „Nostra Aetate“ vornahm. Sie beruht auf einer gründlichen theologisch-ethischen Reflexion darüber, wie es zum Menschheitsverbrechen der Shoah kommen konnte, und ist ohne diese Vorgeschichte weder zu verstehen noch angemessen zu würdigen. In der entscheidenden Ziffer 4 dieses Dokuments wird die Verantwortung von in der Katechese Tätigen und Predigenden betont, „die gegenseitige Kenntnis und Achtung [zu] fördern, die vor allem die Frucht 
biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist“. Es gelte, allem entgegenzuwirken, was in der Vergangenheit „Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus“ begünstigt und ermöglicht hat. Dieser „Geist“ von Nostra Aetate hat seitdem das christlich-jüdische Gespräch getragen – auch in Zeiten, in denen es durch Äußerungen, die auf jüdischer Seite Irritationen hervorriefen, belastet wurde. 

Die Arbeit der Hamburger GCJZ stand im Zeichen dieser Neuorientierung. Sie suchte vor allem durch ihre Angebote an Vortrags- und Seminarveranstaltungen sowie durch zahlreiche themenspezifische Reisen zu Orten jüdischen Lebens innerhalb und außerhalb Europas, zur Bewusstseinsbildung für die Bedeutung des christlich-jüdischen Gesprächs beizutragen. Über lange Jahre hat sich Monsignore Wilm Sanders in dieser Arbeit besonders engagiert und ihre inhaltliche Ausrichtung geprägt.

II. Vatikanisches Konzil ist von großer Bedeutung.

PROF. DR. THOMAS HOPPE

Heute ist auch die deutsche Gesellschaft anders strukturiert als in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Es gibt viele Menschen, die aus anderen, gerade auch muslimisch geprägten Kulturkreisen zugewandert sind. Was bedeutet das für die Arbeit der GCJZ?

Der Zugang zu Menschen, die nicht christlich geprägten Bevölkerungsgruppen zugehören, ist naturgemäß weniger leicht möglich, als es in den über Jahrzehnte gewachsenen Kontexten der christlich-jüdischen Zusammenarbeit der Fall ist. Zugleich wendet sich das ethische und gesellschaftspolitische Anliegen der Arbeit der GCJZ, wie es eingangs beschrieben wurde, auch an alle Menschen, die erst in jüngerer Zeit nach Deutschland gekommen sind. Häufig lässt sich beobachten, dass es einen erheblichen Informations- und Gesprächsbedarf über die Fragen gibt, die sich mit den Lebensbedingungen von Jüdinnen und Juden in Europa heute verbinden. Aber es braucht auch genauere Kenntnisse über die Entwicklungen, die zur Shoah führten, und über deren Bedeutung für politische Weichenstellungen in der Gegenwart. Ein Modell könnte ein Projekt sein, das in Zusammenarbeit der Universität Jena und zweier israelischer Universitäten sowie einer dort ansässigen Nichtregierungsorganisation durchgeführt wurde. Ihr Gründer begleitete eine Gruppe paläs­tinensischer Studierender nach Auschwitz. Er wollte ihnen nahebringen, was die Erfahrung der Shoah für die Existenz der Überlebenden und die Sicht ihrer Kinder und Enkel auf aktuelle politische Prozesse bedeutet. Im Rahmen des Projekts ging es zudem darum, jüdisch-israelischen Studierenden zu vermitteln, warum die Erinnerung an die Entwurzelung palästinensischer Familien aus ihrer Heimat im Kontext der Ereignisse des Jahres 1948 bis heute schmerzlich ist. Auf diese Weise kann wechselseitige Empathie wachsen, ohne grob Unterschiedliches gleichzusetzen, und ebenso ohne zu riskieren, dass die Erfahrungen des jeweiligen Gegenübers in ihrem Gewicht nicht ernst genommen werden.

Wie engagiert sich die GCJZ derzeit gegen wieder offener zutage tretenden Antisemitismus und Rassismus?

Neben den herkömmlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus ist in den letzten Jahren insbesondere der israelbezogene Antisemitismus in den Vordergrund getreten, dessen Ziel es letztlich ist, die Existenzberechtigung Israels zu leugnen. Dafür werden Narrative in Umlauf gebracht, die mit falschen Behauptungen beziehungsweise einseitigen Schuldzuweisungen für bestehende Konfliktsituationen arbeiten und an die Politik des Staates Maßstäbe anlegen, die gegenüber keinem anderen Land in dieser Form zur Anwendung kommen. Diese Strategie tritt nicht nur offen, sondern auch in subtiler Kodierung auf und ist auf den ersten Blick manchmal nicht erkennbar. Hierfür wollen wir sensibilisieren, damit Menschen nicht – erneut – in den Sog antisemitischer Denkformen geraten, weil sie sie nicht oder zu spät durchschauen. 

Mit dieser Absicht haben wir im März 2018 eine öffentliche Erklärung gegen die aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus abgegeben (https://www.zusammen-in-hamburg.de/zusammen-leben-grundlagen/erklaerung-antisemitismus-gcjz-hamburg-e-v.html). Denn über diese Möglichkeit des Wirkens durch das Wort lassen sich auch Menschen erreichen, denen der Zugang zu einschlägigen Veranstaltungen der Hamburger Gesellschaft und ihrer Kooperationspartner aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten bereiten mag. Über die Möglichkeiten der GCJZ hinaus weist das, was ein thematisch entsprechend ausgerichteter schulischer wie außerschulischer Religionsunterricht erreichen kann. Hier wäre es zu wünschen, dass Lehrinhalte, die auf die typischen Wirkmechanismen auch subtiler Formen des Antisemitismus aufmerksam werden lassen, verpflichtend in allen Curricula und in den Veranstaltungsprogrammen von Fortbildungseinrichtungen für Lehrende verankert werden. 

Ein Problem ist die Gewinnung von Nachwuchs. Was tut die GCJZ in dieser Hinsicht?

Aktive Formen der Mitgliederwerbung sind nicht der Schwerpunkt unserer Arbeit, jedoch ergibt sich von Zeit zu Zeit, nicht selten im Kontext von Veranstaltungen, das Interesse daran, die Tätigkeit der Gesellschaft in Form einer Mitgliedschaft zu unterstützen. Es lässt sich aber nicht übersehen, dass die Bedeutung, die Themen im zivilgesellschaftlichen Kontext zugemessen wird, mit der Zahl der von ihnen direkt oder indirekt Betroffenen in einem Zusammenhang steht. Der zeitliche Abstand zu entscheidenden Ereignissen und der damit verbundene Generationswechsel wirken sich hier ambivalent aus.

Die „Woche der Brüderlichkeit“ wird nun durch ein „Jahr der Zusammenarbeit“ ersetzt. Was zeichnet dieses neue Format aus und was verspricht man sich davon?

Es ging in erster Linie darum, eine Bezeichnung zu finden, die nicht in geschlechtsspezifischer Hinsicht als diskriminierend empfunden wird bzw. werden könnte, auch wenn dies nie jemand beabsichtigt hat. Dass nun das „Jahr“ und nicht die „Woche“ im Titel auftaucht, entspricht dem, was schon heute Realität in den jeweiligen Gesellschaften vor Ort ist: eine thematische Programmplanung, die während des gesamten Jahres entsprechende Angebote bereithält.

Matthias Schatz